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SPD-Spitzenkandidat Schulz: "Keine abgehängten Regionen"

Martin Schulz will vor allem um unentschlossene Wähler kämpfen. Dies erklärte er im Volksstimme-Interview.

Von Steffen Honig 12.09.2017, 01:01

Sie kommen aus dem tiefen Westen Deutschlands und waren jahrzehntelang in der Europapolitik tätig. Was können Sie mit diesem Hintergrund den Ostdeutschen anbieten?
Martin Schulz:
Ich glaube, dass die Zukunft Deutschlands in einem starken Europa liegt, wirtschaftlich und vor allem politisch, und bringe viele Erfahrungen aus dieser Ebene ein. Ich bin als langjähriger Bürgermeister einer westdeutschen Kleinstadt mit den Alltagssorgen der Menschen gut vertraut. Mit Problemen bei den Arbeitsplätzen, den Renten, in den ländlichen Gebieten. Ich weiß daher um die Notwendigkeit praktischer Lösungen. Ich stelle den Respekt vor der Lebensleistung jedes Einzelnen in den Mittelpunkt meines Handelns.

Und was die Ostdeutschen nach der Wende geleistet haben, ist unvergleichlich. Meine Alltagserfahrung als Bürgermeister, der die Sorgen der Leute kennt, meine Kenntnis der internationalen Zusammenhänge und einen konkreten Zukunftsplan für gerechte Löhne, bessere Bildung, sichere Renten und für Frieden in Europa, das kann ich anbieten.

Sie berufen sich gern auf die hart arbeitenden Menschen. Wie haben Sie Kontakt zu den einfachen Leuten?
Ich wohne immer noch in Würselen, wo ich viele Jahre Bürgermeister war. Ich bin viel unterwegs, in Betrieben, in Kitas, in Altenheimen. Ich gehe in Ausbildungsstätten und zu Ehrenamtlern in der Flüchtlingshilfe genauso wie in Berufsschulen. Ich bin auf den Straßen und Plätzen unseres Landes unterwegs. Die CDU macht ja einen Wahlkampf „Air Force One gegen Würselen“. Finde ich gut. Es leben deutlich mehr Wählerinnen und Wähler in Städten wie Würselen als es Sitzplätze im Regierungsflugzeug gibt.

Sie fahren Ihren Wahlkampf mit höchstem Einsatz. In den Umfragewerten spiegelt sich das nicht wider. Lohnt sich für Sie der Kampf bis zur letzten Minute?
Meine Partei und ich kämpfen für unsere Überzeugungen. Alle Umfragen zeigen einen Rekord-Anteil unentschlossener Wähler, die kann man noch gewinnen. Daher lohnt sich der Wahlkampf.

Außer mit der AfD haben Sie keine Koalition ausgeschlossen. Wie es aussieht, könnte die SPD nur in einer Großen Koalition mit der Union weiter mitregieren. Würden Sie diesen Weg nochmals beschreiten?
Ich bewerbe mich für das Amt des Bundeskanzlers. Ich habe den Wählerinnen und Wählern vier Zusagen gemacht: Endlich bessere Schulen, gleicher Lohn für gleiche Arbeit, wir stoppen das Absinken des Rentenniveaus und wir arbeiten für Europa und den Frieden. Das ist für mich absolut unverhandelbar. Wer das will, muss am 24.9. die SPD wählen.

Die Aussage steht aber, dass Sie sich außer mit der AfD eine Zusammenarbeit mit allen anderen Parteien vorstellen können?
Wer nach der Wahl mit uns reden will, muss auf Grundlage unseres Programms auf uns zukommen. Wer den Euro oder die internationalen Verpflichtungen der Bundesrepublik in Frage stellt, wird nicht in eine Regierung, die ich führe, eintreten können.

Ende 2019 läuft der Solidarpakt aus. Strukturschwache Regionen sollen nicht mehr nach Himmelsrichtung, sondern Bedarf gefördert werden. Glauben Sie, dass das funktionieren kann?
Der Bund ist nach dem Grundgesetz verpflichtet, für gleiche Lebensbedingungen in den Regionen zu sorgen. Dies ist eine Daueraufgabe – unabhängig davon, ob es einen Solidarpakt gibt oder nicht. Die Bundesregierung muss dem in jedem Fall nachkommen.

Eine Förderung nach Bedarf entspricht also Ihren Intentionen.
Man muss es mal praktisch machen: Wenn ländliche Räume von der Infrastruktur abgeschnitten werden – von der medizinischen Versorgung, vom Breitbandausbau, vom Ausbau der Verkehrswege – dann sterben sie langsam aus. Ob diese Gebiete nun im Norden, Osten, Süden oder Westen liegen, es darf keine abgehängten Regionen geben. Deshalb muss der Bund verpflichtend investieren. Wenn Chile und Mexiko mehr Glasfaseranschlüsse für schnelles Internet haben als Deutschland, müssen wir dringend etwas tun. Das ist nach zwölf Jahren Angela Merkel ein bitterer Befund. Frau Merkel hat beklagt, dass im TV-Duell zu wenig über Digitales geredet wurde – das habe ich auch bedauert. Ich bin sofort bereit zu einem zweiten Duell. Von mir aus morgen.

Was muss bei der Digitalisierung neben Breitbandausbau als nächstes getan werden?
Den Ausbau eines stabilen Mobilfunknetzes müssen wir vorantreiben. Die SPD will gebührenfreie Bildung von der Kita bis zur Universität. Und es kann nicht sein, dass viele Kinder Smartphones haben, aber die wenigsten Schulen WLAN. Zudem müssen wir die Berufsschulen mit modernsten Lehrmitteln ausstatten – das sollen wieder Zukunftswerkstätten sein. Für mich ist die berufliche Bildung genauso wichtig wie die akademische. In Deutschland fehlen bis 2030 einer Studie zufolge 3 Millionen Facharbeiter. Die Entwicklung unseres Landes hängt auch davon ab, wie viel Geld wir in Bildung und Qualifizierung investieren.

Die Unionsparteien heben gern auf die „schwarze Null“ ab, was Investitionen Grenzen setzt. Bei Ihnen hört sich das anders an.
Der Bund hat Milliarden-Überschüsse! Das will die CDU in Steuergeschenke für Reiche stecken und in massive Aufrüstung. Frau Merkel will ja die Bundeswehr zur größten Armee in Europa aufrüsten. Oder man nutzt diese Stärke der Bundesrepublik, um in die Zukunft des Landes zu investieren.

In Deutschland geht die Angst vor wachsender Altersarmut in den nächsten Jahren um. Brauchen wir eine neue Rentenreform?
Wir brauchen einen neuen Generationenvertrag, der das Rentenniveau und die Beiträge stabilisiert. Es gibt keine SPD-Regierung, wenn das nicht erfüllt wird. Das ist der Haupt- unterschied zwischen Frau Merkel und mir: Sie sagt: Alles ist gut, wir brauchen nichts tun. Das ist eine Kampfansage an eine ganze Generation. Denn dann sinken die Renten ab und die Beiträge steigen. Und große Kräfte in der CDU wollen die Leute bis zum 70. Lebensjahr arbeiten lassen. Das ist mit uns nicht zu machen.

Was sind Ihre Pläne?
In den von uns angestrebten Generationenvertrag müssen neue Beitragsformen einbezogen werden: Ich denke da an die Solo-Selbständigen, die bisher gar keine Absicherung haben. Wir brauchen auch die Entlastung der Rentenkasse um die versicherungsfremden Leistungen, die über die Steuer finanziert werden müssten, etwa die Mütterrente. Folgendes Beispiel zeigt, was sonst passiert: Eine heute 40-jährige Krankenpflegerin wird die höchsten Rentenbeiträge bezahlen müssen, die niedrigste Rente bekommen und als 70-Jährige noch 80-Jährige pflegen. Das ist die Generationengerechtigkeit à la CDU!

Es gibt jetzt Stimmen in der CDU, die Parität in der gesetzlichen Krankenversicherung wieder einzuführen, was die SPD schon lange fordert.
Das ist ja nichts Neues: Die Union plappert alles nach, was wir sagen. Und zwar innerhalb von zwei Minuten, wie man beim Fernsehduell sehen konnte. Aber das ist leeres Gerede. Alles, was wir in der Großen Koalition an Verbesserungen erreicht haben, mussten wir gegen die Union durchsetzen.

Bei einem Wahlsieg wollen Sie in den ersten 100 Tagen für gleiche Bezahlung von Frauen und Männern sorgen. Wie soll das funktionieren?
Indem für jede Arbeit, die Männer und Frauen ausführen, gleicher Lohn gezahlt wird. Und indem vor allem die Berufe, in denen Frauen arbeiten und die durchschnittlich schlechter bezahlt werden – das sind vor allem soziale Berufe – endlich aufgewertet und besser bezahlt werden. Nehmen wir die Pflegeleistungen, nehmen wir die Erzieherinnen, überall dort wird schlechter verdient als etwa in der Metallindustrie.

Das glauben Sie in 100 Tagen hinzukriegen?
Ich will das anpacken! Von anderen hören Sie dazu gar nichts.

Die Chancen für ein von der SPD seit langem angestrebtes Einwanderungsgesetz stehen gut. Es hilft jedoch nicht bei den Problemen der Integrationspolitik. Gestritten wird derzeit um den Familiennachzug. Die Union ist dagegen, warum ist die SPD dafür?
Es geht um Ehefrauen und Kinder, die immer noch im Bürgerkrieg leben oder in Lagern ausharren. Die Kernfamilie so genannter subsidiär (zeitweise d. Red.) geschützter Menschen kann nachkommen. Nur wegen der unbestrittenen Ausnahmesituation 2015 wurde er zeitweilig ausgesetzt. Von einer solchen sind wir heute zum Glück weit entfernt. Dazu sind Einzelfallprüfungen nötig – man kann also nicht generell Ja oder generell Nein sagen. Mit der SPD wird es keine Gesetzesänderung geben – und damit keine Verlängerung der Aussetzung des Familiennachzugs.

Was, denken Sie, muss in Deutschland getan werden, um bei der Integrationspolitik voranzukommen?
Wir brauchen vor allem eine gerechte Verteilung der Flüchtlinge unter den Mitgliedsländern der Europäischen Union. Dass Ungarn oder Polen die Aufnahme verweigern ist inakzeptabel. Diese beiden Länder bekommen viel Geld aus dem EU-Haushalt, für den Deutschland der größte Nettozahler ist. Sie sagen bei Regionalfondsmitteln „Ja, bitte“, aber bei der Solidarität mit Deutschland bei der Flüchtlingspolitik „Nein, danke“. Das geht so nicht. Der Anführer ist Ungarns Ministerpräsident Orban aus dem Parteienverbund von Frau Merkel und ein enger Freund von Herrn Seehofer. Ich bin nicht bereit, das einfach hinzunehmen.

Das ist der internationale Aspekt. Was ist in der Bundesrepublik selbst erforderlich?
Vor allem die Verfahren beschleunigen, Deutschland ist hier im Vergleich zu anderen Staaten mit am langsamsten.

Davon wird seit langem geredet, aber es tut sich wenig.
Stimmt, aber das geht an Herrn de Maizière. Der ist dafür zuständig. Dieser angebliche Leitkultur-Experte weiß wohl nicht, dass dazu auch eine preußische Verwaltung gehört. Oder Sie fragen mal Frau Merkel, warum unter ihrer Regierung eine so schleppende Bearbeitung durch die Behörden des Innenministeriums erfolgt. Ich würde mir schnellere Verfahren wünschen.

Die gleiche Betulichkeit gibt es bei Abschiebungen.
Da, wo abgeschoben werden muss, wird abgeschoben. Gefährder und Kriminelle müssen so schnell wie möglich abgeschoben werden. Genauso wie nach endgültigen richterlichen Feststellungen.

Sie haben einen epochalen Wandel in der Türkei-Politik der SPD verkündet: den Abbruch der EU-Beitrittsgespräche, Frau Merkel hat sich angeschlossen. In Europa gibt es aber keine Mehrheit dafür. Was soll nun passieren?
Herr Erdogan schleift die Demokratie in der Türkei und inhaftiert willkürlich Journalisten. Das verlangt eine klare Antwort. Die Bundesrepublik muss in der Europäischen Union dafür eine Mehrheit bekommen. Man muss eben kämpfen und sich durchsetzen. Die Bundesrepublik setzt sonst viel durch in Europa, man muss nur wollen.

Die Sanktionen gegen Russland sind umstritten, weil nachweislich die Wirtschaft darunter leidet, auch in Sachsen-Anhalt. Halten Sie es für gut, die restriktive Politik fortzusetzen?
Russland ist am Zuge. Es gibt genug Angebote. Die russische Regierung muss die völkerrechtswidrigen Schritte, die unternommen worden sind, rückgängig machen. Solange das Minsker Abkommen nicht Schritt für Schritt umgesetzt wird, braucht man über die Aufhebung der Sanktionen nicht zu diskutieren.

Im Ernst: Bis die Minsker Vereinbarung erfüllt ist, können noch Jahre vergehen. Wollen Sie so lange die Russland-Beziehungen auf Sparflamme fahren?
In dem Maße wie Russland das Minsker Abkommen umsetzt, kann die EU auf Russland zugehen. Sigmar Gabriel hat dazu Vorschläge gemacht. So sollten bei einem dauerhaften Waffenstillstand in der Ostukraine die EU-Staaten beim Wiederaufbau der Region helfen. Dies unterstütze ich.