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SPD Stegner hält Kühnerts Thesen für überzogen

SPD-Vizechef Ralf Stegner hält Kevin Kühnerts Thesen für überzogen, unterstützt aber die Kritik des Juso-Chefs am Versagen des Marktes.

Von Alois Kösters 08.05.2019, 01:01

Volksstimme: In der SPD wird heftig über die Vergesellschaftungs-Thesen von Juso-Chef Kevin Kühnert gestritten. Ist das Ausdruck von Flügelkämpfen oder mehr?
Ralf Stegner: Die Flügel sind nicht unwichtig, spielen aber eine deutlich geringere Rolle als früher. Wir haben einen Juso-Vorsitzenden, der effektiver und wirkmächtiger als manche seiner Vorgänger ist, aber das, was er vertritt, unterscheidet sich nicht grundsätzlich von dem, was ein Gerhard Schröder oder eine Andrea Nahles zu ihrer Zeit als Juso-Vorsitzende formuliert haben. In dem „Zeit“-Interview ging es um politische Utopien. Ich hätte die eine oder andere Antwort sicher anders gegeben, aber der demokratische Sozialismus steht im Grundsatzprogramm der SPD seit 100 Jahren. Daran wird sich nichts ändern. Die Diskussion führt eine Partei, die unter schlechten Umfragewerten leidet, schwierige Wahlen vor sich hat und die die Große Koalition insgesamt nicht gerade liebt. Sofort sind die Gegner außerhalb der SPD über Kevin Kühnert hergefallen und haben ihm Venezuela oder die DDR vorgehalten. Die Konservativen und Liberalen haben das gerade nötig: Während die SPD zu DDR-Zeiten verboten war und ihre Leute in Bautzen einsaßen, saßen ihre Blockparteien in der Volkskammer. Und nach der Wende wurden Mitglieder, Organisationen und Vermögensanteile von CDU und FDP fröhlich übernommen, während die SPD sich mühsam neu gründen musste.

Dahinter könnte auch ein strategisches Umschwenken stecken.
Bei den niedrigen Umfragewerten besteht die Gefahr, dass eine Partei ängstlich wird und vieles, was sie tut, allzu taktisch betrachtet. Es schadet uns aber gar nichts, wenn die Unterschiede zwischen CDU und SPD deutlicher werden – im Gegenteil. Das hat auch den positiven Nebeneffekt, dass die Rechten gar keine Rolle mehr in dieser Diskussion spielen. Entscheidend ist, dass Kevin Kühnert die richtigen Fragen angesprochen hat – und nicht, dass man jeder seiner Antworten zustimmen muss. Es geht um Marktversagen. Was macht der Staat, wenn die Mieten explodieren, wenn trotz langer Arbeitsleben die Rente nicht reicht, wenn beim Klimaschutz nichts passiert? Die Reaktion von Union und FDP auf die Jugendlichen von „Fridays for future“ war arrogant. Für die SPD hat Kevin Kühnert hingegen eine Chance, junge Leute tatsächlich anzusprechen.

Was halten Sie von Kühnerts Meinung, wie lange wird die Debatte anhalten?
Die Debatte über Marktversagen und einen handlungsfähigen Staat wird hoffentlich bleiben. Beim Thema Kollektivierung sind wir eher in der Abteilung Politische Utopie. Ich glaube, die Bürger wissen zwischen solchen Zukunftsdebatten und konkreten Wahlprogrammen und deren kurzfristiger Handlungsperspektive durchaus zu unterscheiden. Ein Beispiel: Bei der Wohnungsnot redet die SPD über Mietenstopp, Bodenwertbesteuerung und die Förderung genossenschaftlichen Wohnens, aber sicher nicht darüber, das Vermieten zu verbieten. Es gibt aber Wohnungsbaukonzerne, die mit ihrem Eigentum spekulieren. Im Grundgesetz steht, dass diese in Extremfällen auch enteignet werden könnten, weil Eigentum verpflichtet. Das ist also keine sozialistische Erfindung.

Warum sollten die Wähler angesichts dieser Thesen nicht gleich die Linke wählen?
Weil die Linke in weiten Teilen bisher nicht regieren wollte, europäisch gesehen teilweise linksnationalistisch argumentiert hat und in der Vergangenheit die SPD teils als Hauptgegner betrachtet hat. Ich stelle fest, dass diese Linkspartei inzwischen beginnt, über eine Regierungsmehrheit diesseits der Union stärker nachzudenken. Die wird es aber nur geben, wenn SPD, Grüne und Linkspartei jeweils ihre Hausaufgaben machen. Alle drei haben ihre Herausforderungen: Den Grünen geht es momentan gut, aber da ist auch viel PR-Hype und es fehlt das Soziale; die Linkspartei muss sich entscheiden, ob sie regieren will oder nicht; und die SPD muss in Programm, Selbstbewusstsein und Kommunikation zu eigener, neuer Stärke finden.

Muss die SPD Kühnert sogar dankbar sein?
Dass wir ein modernes, solidarisches Sozialstaatskonzept in der SPD haben, mit steigendem Mindestlohn, Grundrente, Bürgergeld und Qualifizierungsrecht, ist einerseits Verdienst unserer Vorsitzenden Andrea Nahles. Doch auch Kevin Kühnert hat damit eine Menge zu tun, weil die Jusos Druck gemacht haben, und auch ich habe mich seit Jahren für diesen Kurs eingesetzt. Das ist meine linke Volkspartei SPD, die endlich dem neoliberalen Zeitgeist Paroli bietet.

Die SPD ist aber seit langem in der Bundesregierung. Eine Zeit, in der sich die Automobilindustrie in einem nahezu rechtsfreien Raum bewegen konnte. Das alles verantwortet ihre Partei mit.
Unbefleckt ist immer nur der, der niemals regiert. Die SPD ist in der Regierung, wenn auch mit gegenwärtig nur 20 Prozent. Ich glaube, dass wir aus unseren Fehlern gelernt haben, und da sind einige gemacht worden. Aber es gibt Unterschiede zwischen uns und der Union, und die sind sichtbar. Die Frage ist, wer sich schützend vor Beschäftigte und Verbraucher stellt – und wer vor die Industriemanager? Wir müssen drei Dinge zusammenbringen: Verbraucherschutz, die Luftreinhaltung und den Schutz der Arbeitsplätze, weil sonst die emissionsfreien Autos in Japan oder China gebaut werden.

Da blinkt die Machtoption Rot-Rot-Grün neu auf.
Weniger durch die spektakulären Schlagworte des Interviews von Kevin Kühnert. Eher durch die Tatsachen: Marktversagen, Nationalismus und die Gefahren für Europa führen dazu, dass die Chancen für eine progressive Mehrheit wieder größer geworden sind. Die SPD wird wieder Oberwasser bekommen, wenn die Leute sagen: Irgendeiner muss das Land ja zusammenhalten, und das kann die SPD am besten: Stadt und Land, Jung und Alt, und eben auch Arbeit und Umwelt. Wir müssen beispielsweise den Klimaschutz hinkriegen, ohne dass die Kohlereviere ins Nirwana gestoßen werden.

Der Lärm um eine umfassende CO2-Steuer ist gewaltig. Wie positioniert sich hier die SPD?
Wir arbeiten an einem Konzept, das drei Kriterien genügen muss: Die CO2-Bepreisung muss sozial verträglich sein. Sie darf nicht die Leute, die wenig Geld haben, netto mehr belasten. Sie muss zudem effektiv sein und eine Lenkungswirkung haben.

So wie die teure EEG-Umlage?
Die hatte sehr wohl eine Lenkungswirkung. Es hat die erneuerbaren Energien deutlich voran gebracht. Es gibt jetzt die Möglichkeit, hier für Entlastung zu sorgen. Ich will aber noch den dritten Punkt nennen: Die CO2-Bepreisung kann nur eine von vielen Maßnahmen beim Klimaschutz sein. Dazu muss das Klimaschutzgesetz kommen, nicht nur im Bereich des Umweltministeriums, sondern auch beim Verkehr und beim Bauen. Bisher herrscht bei den Herren Scheuer und Seehofer da vollständige Flaute.

Wenn der Liter Benzin fünf Cent teuer werden sollte, was ist das anderes als ein Steuererhöhung?
Für die Normalverdiener würde das eben keine Steuererhöhung sein, weil es sozial ausgeglichen werden müsste. In Schweden und der Schweiz wird das seit Jahren mit Erfolg praktiziert.

Also wird es mit der SPD keine Steuerhöhungen fürs Klima geben?
Wir brauchen eine CO2-Bepreisung. Ob das eine Steuer ist oder nicht, darüber muss man reden. Dabei dürfen Verbraucher und Normalverdiener im Saldo nicht höher belastet werden. Und Unternehmen, die etwas für den Klimaschutz tun, müssen etwas davon haben.

Bei der anstehenden Europawahl wird ein Rechtsruck befürchtet. Teilen Sie diese Ansicht?
Viele verkennen, wie groß die Gefahr ist. Die Nationalisten in Europa sind deutlich stärker, als sie sein dürften. Sie lösen kein einziges Problem, sondern suchen nur Sündenböcke. Außerdem lässt sich kein einziges Problem mehr national lösen. Deshalb sagen wir: Bei dieser Europawahl geht es um nichts weniger als die Erhaltung von Wohlstand und Frieden. Europa hat keine Zukunft als Wirtschafts- und Bankenunion, sondern nur als Werteunion, die gemeinsam handelt.

Nach SPD-Vorstellungen sollen Milliarden in EU-Sozialprogramme fließen. Treibt das nicht Wähler in die Arme der Rechten?
Ich würde eine andere Rechnung aufmachen. Deutschlands Arbeitsplätze hängen daran, dass wir Vizeweltmeister im Export sind. Einen Großteil exportieren wir nach Europa. Das funktioniert nicht, wenn es unseren südeuropäischen Nachbarn so geht wie jetzt, mit 50 Prozent Jugendarbeitslosigkeit. Die Deutschen haben nicht Angst davor, dass wir zu viel bezahlen, sondern dass wir unseren Wohlstand verlieren. Wir brauchen ein soziales Europa, in dem Großkonzerne endlich Steuern zahlen, und mit guter Arbeit für alle. Mit dem Sozialdumping muss endgültig Schluss sein!