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Türkei Im Bann des Referendums

Am Sonntag stimmen die Türken über das Präsidialsystem ab. Das Land ist in Befürworter und Gegner gespalten.

Von Can Merey, dpa 14.04.2017, 23:01

 

Istanbul l „Eine Nation!“, ruft Recep Tayyip Erdogan vor jubelnden Anhängern. „Eine Flagge! Ein Vaterland! Ein Staat!“ Dieses Stakkato darf bei keinem der vielen Wahlkampfauftritte des türkischen Staatschefs fehlen. Die Türken sind tief gespalten über Erdogan selbst – und vor allem über die Frage, wie viel Macht der Präsident künftig haben soll. Der Staatschef gab kürzlich als Wunschziel mehr als 60 Prozent „Ja“-Stimmen aus. Meinungsumfragen ließen allerdings bis zuletzt auf keinen klaren Sieg eines Lagers schließen.

Die meisten Medien sind längst auf Regierungskurs gebracht worden und berichten, was von ihnen erwartet wird. Der Türkei-Experte Gareth Jenkins vom Institut für Sicherheits- und Entwicklungspolitik (ISDP) lebt seit 1989 in dem Land, er sagt: „Seit ich in der Türkei bin, habe ich noch nie eine so undemokratische Wahl gesehen.“ Dennoch lässt sich die „Nein“-Seite nicht entmutigen. Freiwillige erklären Bürgern an Ständen, dass die Verfassungsreform aus ihrer Sicht zur Ein-Mann-Herrschaft führen könnte. Dazu gehört Mut – es herrscht Ausnahmezustand.

Erdogan und die AKP versuchen, Wähler mit einer Mischung aus Zuckerbrot und Peitsche zu einem „Ja“ zu bewegen. Ein „Ja“, so wird suggeriert, sei das Votum der Patrioten, die eine stabile und prosperierende Türkei wollten. „Nein“-Sager werden in die Nähe von Terroristen gerückt. Die AKP verkauft die geplante Verfassungsreform außerdem als ein Mehr an Demokratie. Aus Sicht der Verfassungsexperten des Europarates („Venedig-Kommission“) jedoch könnten die Änderungen die Grundlage für ein autoritäres Regime bilden.

Das „Ja“-Lager propagiert zwar nicht unbedingt die Unwahrheit, aber auch nicht immer die volle Wahrheit. So stimmt etwa, dass der Präsident unter dem neuen System theoretisch für alle Straftaten zur Rechenschaft gezogen werden kann. Unerwähnt bleibt aber, dass der Einfluss des Präsidenten auf das Parlament das in der Praxis extrem unwahrscheinlich machen würde. Auch andere Punkte scheinen vor allem dazu zu dienen, dem „Präsidialsystem türkischer Art“ (Erdogan) einen demokratischen Anstrich zu geben.

Eine unabhängige Justiz ist schon jetzt in der Verfassung verankert. Wieso hält es die AKP dann für nötig, nun zusätzlich noch Unparteilichkeit festzuschreiben, nachdem sie selber seit mehr als 14 Jahren an der Macht ist? Und wie verträgt sich das mit dem wachsenden Einfluss des Präsidenten – der nach einem Sieg des „Ja“-Lagers beim Referendum wieder einer Partei angehören dürfte – auf eben jene Justiz? Auch treue AKP-Wähler sagen in privaten Gesprächen, dass ihnen die Reform nicht geheuer ist und sie mit „Nein“ stimmen werden. Da die beiden größeren Oppositionsparteien – die kemalistische CHP und die pro-kurdische HDP – strikt gegen das Präsidialsystem sind, braucht Erdogan Stimmen aus dem Lager der ultranationalistischen MHP. Parteichef Devlet Bahceli hat der MHP zwar einen Ja-Kurs verordnet, viele Anhänger begehren dagegen aber auf.

Sollte sich Erdogans Lager beim Referendum durchsetzen, würde nicht nur aus türkischer, sondern auch aus europäischer Sicht die Frage relevant: Waren seine Aussagen zu einer möglichen Wiedereinführung der Todesstrafe nur Wahlkampfgetöse, oder macht er Ernst? Bleibt er auf europafeindlichem Kurs?

Seine volle Machtfülle würde er aber erst nach einem Sieg bei der nächsten Präsidentenwahl erreichen, die erstmals gemeinsam mit der Parlamentswahl stattfinden würde. Als Termin ist in den Reformartikeln der 3. November 2019 festgeschrieben.

Allerdings steht dort auch, dass die Wahl vorgezogen werden kann. Die Wirtschaft lahmt, bis 2019 könnte sie in einer ernsten Krise stecken, was Erdogans Siegeschancen deutlich verringern würde. Jenkins befürchtet: „Was immer auch passiert, die Türkei steuert auf eine große Krise zu.“