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Wahl Zerrissene Ukraine wählt Präsidenten

Die Ukrainer wählen einen neuen Präsidenten. Amtsinhaber Petro Poroschenko werden kaum Chancen auf den Sieg eingeräumt.

27.03.2019, 23:01

Kiew (dpa) l Die Sehnsucht nach Frieden und noch mehr Europa ist in der krisengeschüttelten Ukraine fast mit den Händen greifbar. Ob in Charkiw im russisch geprägten Osten – unweit des Kriegsgebiets Donbass. Oder in der bei Touristen beliebten malerischen Altstadt von Lwiw oder Lemberg. Wenn an diesem Sonntag 30 Millionen Menschen aufgerufen sind, einen neuen Präsidenten zu wählen, ist das auch ein großer Stimmungstest für das in die EU und die Nato strebende Land.

Lwiw, die mit über 700 000 Einwohnern siebtgrößte Stadt des Landes, hat auch sieben Jahre nach der Fußball-Europameisterschaft von 2012 kaum an Aufbruchstimmung verloren. Baumaschinen und Material versperren den Fußgängern am Bahnhofsvorplatz den Weg. Alles soll neu gebaut werden, verspricht Bürgermeister Andrej Sadowy, der die Stadt seit 13 Jahren führt. „Fußgängerzone, Fahrradwege, Springbrunnen – es wird sehr schön“, sagt er. Doch über den Marktplatz rattert wie ehedem eine rostige Straßenbahn. Abseits hipper Kaffeeläden bröckelt der Putz von den Hauswänden.

Kaum wahrnehmbar, aber doch präsent ist hier der seit Jahren andauernde Krieg im Osten, bei dem rund 13 000 Menschen bisher starben. Lwiw ist Zufluchtsort für viele Menschen, die aus den von prorussischen Separatisten und ukrainischen Truppen umkämpften Gebieten Donezk und Luhansk geflüchtet sind. Andererseits wirbt die ukrainische Regierung auf Plakaten für die Armee. Das Thema bewegt besonders junge Wähler.

„Es schmerzt mich so sehr“, sagt Rostislaw Tistyk. Er erzählt, dass seine Freunde von der Front nicht mehr zurückkamen. Noch 2014 – nach den blutigen Protesten in Kiew und dem Sturz des prorussischen Präsidenten Viktor Janukowitsch – hatte der junge Manager für den damaligen Hoffnungsträger Petro Poroschenko gestimmt. Doch jetzt leitet er hier das Bürgerbüro des politischen Quereinsteigers und Präsidentenkandidaten Wladimir Selenski. „Der jetzige Präsident weiß den Wert eines Menschenlebens nicht zu schätzen“, sagt Tistyk. Selenski hat unter den 39 Kandidaten Umfragen zufolge die besten Chancen, sich am Ende durchzusetzen – Amtsinhaber Poroschenko könnte nicht einmal den Sprung in die Stichwahl schaffen. Auch der ehemaligen Ministerpräsidentin Julia Timoschenko werden nur geringe Chancen eingeräumt.

Selenski (41) hat sich als Komiker im Fernsehen über Korruption, Vetternwirtschaft und Machenschaften der Elite lustig und landesweit bekannt gemacht. Speziell junge Menschen sind von ihm begeistert. Kritiker hingegen sehen Selenski als Populisten ohne einen Plan für das Land. Lwiws Bürgermeister sieht die riesige Zustimmung für den Politneuling als Zeichen des Protests.

Knapp 900 Kilometer östlich von Lwiw liegt die Metropole Charkiw mit 1,5 Millionen hauptsächlich russischsprachigen Einwohnern. Die zweitgrößte Stadt der Ukraine, ebenfalls ein einstiger Austragungsort der EM, hat eine besondere Lage: Nur gut 30 Kilometer entfernt ist die russische Grenze, die Front nur 200 Kilometer. Außenbezirke der EM-Nachbarstadt Donezk sind zerstört, der damals neugebaute Flughafen liegt in Trümmern. Die Situation in der Studenten- und Industriemetropole, in der graue Fassaden und Stalinbauten das Bild prägen, ist gespannt. In einem Straßenkiosk arbeitet die Verkäuferin Swetlana. Sie will Selenski wählen. „Wir brauchen wirtschaftliche Stabilität, um etwas planen zu können. Wir leben nur von Tag zu Tag“, sagt die 30-Jährige. Die Lage jetzt findet sie unerträglich. „Das Land braucht in erster Linie positive Energie“, sagt sie.

Für ihre Tochter, die im Kinderwagen sitzt, will die junge Mutter Julia eine andere Zukunft. „Der Krieg steht für mich nicht an erster Stelle“, sagt die 25-Jährige. Sie plagten Geldsorgen. Das Kindergeld von 27 Euro reiche für zwei Wochen Essen für die Kleine. Seit der Milliardär Poroschenko Präsident ist, sind überall im Land neue Geschäfte seiner Schoko-Firma Roshen entstanden. Aber die Menschen klagen über hohe Gaspreise und Lebenshaltungskosten.

Viele Ukrainer sehen kaum eine Zukunft im eigenen Land hier. Jobs sind rar. Entwicklungschancen gibt es kaum. Deshalb wollen viele auswandern – wie schon viele zuvor, die nicht in der Ukraine auf ein besseres Leben warten, sondern es möglichst schnell in der EU finden wollen.