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Historie Was die Bücher der Toten erzählen

Der Magdeburger Westfriedhof beherbergt ein altes, sorgsam geführtes Archiv des Sterbens.

Von Bernd Kaufholz 20.11.2016, 00:00

Magdeburg l Die Pappeinbände der Kladden sind abgewetzt. Staub hat sich zwischen den Seiten mit den altdeutschen Buchstaben breitgemacht. Die handschriftlichen Eintragungen hingegen sind wie gestochen. Die wenigen Worte in den Rubriken deuten an, verraten nur so viel, dass der Phantasie des Lesers genügend Raum gelassen wird, um die tragischen Geschichten hinter den nüchternen Fakten zu erahnen. Die „Bücher der Toten“ auf dem Magdeburger Westfriedhof werden seit dem 22. November 1923 akribisch geführt.

„Adolf Döbrich, Bildhauer, 22. XI 1923, eingeäschert um 1.40 nachmittags, auf dem Westfriedhof beigesetzt“. So lautet die erste Eintragung im „Einäscherungsregister“, wie die unterschiedlich dicken Bücher im Amtsdeutsch heißen. Dier erste Frau taucht unter der Nummer 4 auf: „Frieda Lesse, geb. Banse, Ehefrau, 22 XI, eingeäschert um 3.10 Uhr nachmittags, auf dem Westfriedhof beigesetzt.“

Die frühen Kladden geben in sieben Spalten Auskunft über die Tätigkeit des Krematoriums bis zur Beisetzung der sterblichen Überreste: 1. Name des Feuerbestatteten, 2. Zeitpunkt der Einführung in die Ofenkammern, 3. Angaben, durch wen die Einäscherung vorgenommen wurde, 4. Zeitpunkt der Abgabe der Asche, 5. Name desjenigen, an den die Abgabe erfolgte, 6. Angaben, durch wen die Nummerierung und Verlötung des Aschebehälters erfolgte, 7. Gemarkungen.

Anfang der 1920er Jahre war das Krematorium im Magdeburger Stadtteil Stadtfeld West gebaut worden. Da war der Bestattungsort schon rund 30 Jahre alt. Seinen Körper nach dem Tode verbrennen zu lassen, war während dieser ersten drei Friedhofs-Jahrzehnte allerdings nur langsam in Mode gekommen. Die Menschen ließen sich lieber erdbestatten.

Das hatte jedoch weniger damit zu tun, dass Karl der Große, der am 25. Dezember 800 als erster westeuropäischer Herrscher seit der Antike zum Kaiser gekrönt wurde, die Feuerbestattung im Abendland als heidnischen Brauch untersagt hatte und bei Zuwiderhandlung – wie sinnig – die Todesstrafe androhte, als mit der Tatsache, dass der christliche Glaube einer Einäscherung entgegenstand. Wo kein Körper, da keine Auferstehung. Somit blieb die Erdbestattung in unseren Breiten auch für die nächsten 1100 Jahre die übliche Form.

Erst als sich die Menschen ab dem 18. Jahrhundert auf die Ideale der Antike, in der Einäscherungen ein wesentlicher Bestandteil der Bestattungskultur waren, zurückbesannen, wurden die immer noch umstrittenen Feuerbestattungen mehr und mehr nachgefragt. Das erste Krematorium in Europa nahm 1876 in Mailand seinen Betrieb auf. Vorreiter in Deutschland war Gotha in Thüringen, wo der erste Sarg am 10. Dezember 1878 den Flammen übergeben wurde.

Das erste Buch der Toten 1923-1927 mit dem nur noch schwer lesbaren Stempelaufdruck „Verwaltung des städt. Westfriedhofs Magdeburg“ verrät nicht nur die Schritte bis zur Einäscherung, auch Umbettungen der Urnen sind dokumentiert. Sogar noch, wenn das erst viele Jahrzehnte später geschah: „Nummer 91, Senf, Luisa, geborene Eisenhuth, eingeäschert 15. II 1924 zur Beisetzung auf dem hiesigen Militärfriedhof, ausgegraben am 7.4 1964 nach Erfurt.“

Die meisten Urnen wurden auf dem Westfriedhof beigesetzt, aber eine Reihe der Aschebehälter wurde bereits in den ersten Jahren verschickt, um auf Friedhöfen in ganz Deutschland ihre letzte Ruhestätte zu finden: Dresden-Tolkwitz, Burg, Oschersleben, Berlin-Teltow, Quedlin­burg, Halle sind nur einige Beispiele. Unter der laufenden Nummer 158 ist so zu lesen: „20.V.1924 p. Post Berlin“.

Bis Anfang der 1940er Jahre blieben die Register relativ stumm, doch dann begannen sie, Geschichten vom Sterben anzudeuten. Der Grund: Eine neue Rubrik war hinzugekommen: Todesursache. Und was dort aufgelistet wurde, gleicht einem Lexikon der tödlichen Gebrechen – von Arterienverkalkung, Altersschwäche und Altersverfall, Altersverblödung über Blutvergiftung, Gehirnembolie, Grippe, Herzschlag, Lungentuberkulose, Lebensschwäche bei Frühgeburt, Rippenfellentzündung, Schlaganfall, Siechtum, Unterernährung bis Zuckerkrankheit findet man alle Gebrechen, die Menschen vom Leben zum Tode befördern können.

Aber auch eher exotische Todesursachen sind belegt. So starben ab April 1944 Magdeburger an Fleckfieber – auch Kriegspest, Lazarettfieber oder Läusefieber genannt. Das erste Opfer dieser Infektion durch Mikroorganismen, das eingeäschert wurde, war Oberwachtmeister Wilhelm B. Der 60-jährige starb am 30. April 1944. Wachtmeister Otto O. (58) starb am 8. Mai desselben Jahres. Er wurde am 9. Mai um 15.40 Uhr kremiert. Während der nächsten Monate sind weitere elf Fälle dokumentiert – der letzte war ein Arbeiter am 6. Juni 1944.

Deutlich wird zudem, dass Anfang der 1940er Jahre die Zahl der „Selbstmorde“, „Selbstentleibungen“, „Tod durch eigene Hand“ sprunghaft anstieg. In den Einäscherungsregistern von 1943 und 1944 ist auf den einzelnen Seiten mit jeweils zwölf Namen mindestens ein Suizid zu finden – zumeist Suizid „durch Erhängen“. So starb der 42 Jahre alte Magdeburger Karl F. am 2. Januar 1943 auf diese Weise. Am 9. Januar desselben Jahres wurde sein Leichnam um 15.55 Uhr eingeäschert.

Martin S. (48) erhängte sich am 10. Januar 1943. Sein Leichnam wurde am 16. Januar 1943 um 15.15 Uhr auf dem Westfriedhof kremiert. Das Erhängen ist bei weitem der am häufigsten dokumentierte Selbstmord. Aber auch andere Verzweiflungstaten, so das Vergiften mit Leuchtgas wie im Falle von Frieda S. ( 62) aus Magdeburg am 11. August 1943 (eingeäschert am 17. August, 13 Uhr) und Adalbert D. (54) aus Stendal (verbrannt am 29. März 1943, 16.10 Uhr) oder das Überrollenlassen von der Bahn wie beim 71 Jahre alten Schönebecker Otto K. (kremiert am 21. Juni 1943 um 16.36 Uhr) verrät das Einäscherungsregister.

Die Totenbücher vom Westfriedhof sind Dokumente des Sterbens – und auch ein Beleg der Kriegsgräuel, die das Land heimsuchte.