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Kantinenessen Volkswagen und die Currywurst

Das VW-Hauptwerk bringt jährlich nicht nur 700.000 Pkw auf die Straße. Es produziert zudem rund sieben Millionen Currywürste.

08.09.2019, 00:00

Wolfsburg (dpa) l In Wolfsburg und anderen deutschen VW-Werken hat der Blitz eingeschlagen. Volkswagen ist dabei, sein angeschlagenes Image durch eine Vorreiterrolle zu ersetzen. Alles steht jetzt unter Spannung, die Zukunft heißt Elektromobilität. Da bleibt (fast) nichts, wie es einmal war. Neues Denken, neue Produktion - neues Fahren. Aber eins bleibt beim Alten: die Currywurst. Komme, was da wolle. Die Wolfsburger Autobauer setzen damit auf ein Kantinenessen, dessen Ursprung in diesem Jahr sein 70-jähriges Jubiläum feiert und seit 1973 zur VW-Kultur zählt.

In der werkseigenen Fleischerei, einer Mini-Fabrik im nordöstlichen Winkel des riesigen Geländes, sind 30 Mitarbeiter damit beschäftigt, täglich bis zu sieben Tonnen frisches Schweinefleisch aus der Region zu verarbeiten. Bereits mit der Produktionsaufnahme kurz nach Kriegsende machten die Wolfsburger auf Eigenversorgung beim Fleisch. Sie unterhielten auf dem Werksgelände einen Bauernhof mit einer Schweinezucht. Die Würste sehen aus wie herkömmliche Bockwürste mit Darm - und sind es der Machart nach auch, werden deshalb von VW selbst „Currybockwürste“ genannt, sind 170 Gramm schwer und 25 Zentimeter lang. Und wer dem Gebot der Stunde folgen möchte, weniger Fleisch zu essen, dem wird eine Currywurst light angeboten, die nur 85 Gramm wiegt und 12,5 Zentimeter misst.

Anfangs enthielt das Wurstbrät noch einen kleinen Anteil Beef. Als 1990 nicht nur die Würste in vieler Munde waren, sondern die Rinderseuche BSE in aller Munde, verzichteten die Wolfsburger Wurstmacher fortan auf den Rindfleischanteil. Die heutige reine Schweinefleischwurst und das dazugehörige Ketchup, also die Gesamtrezeptur, bleiben mit einem Fettanteil von 20 Prozent weit unter dem sonst üblichen Level, das gern auch einmal über 30 Prozent liegt.

Und wer es noch fett- und fleischärmer haben möchte, der kann seit 2010 zu einer veganen Variante auf einer Weizenbasis greifen. Nur, es greifen so wenige Kantinenesser danach wie Autokäufer zu einem Auto mit der Listenpreis-Ausstattung.

Von Anbeginn der Wurstfertigung dabei ist Francesco Lo Presti. Seit über zwölf Jahren hat er nicht nur die obligatorische Hygiene-Mütze auf, er trägt auch den symbolischen Hut, der ihn für alles verantwortlich macht, was die Wurstherstellung ausmacht. Sein Name wirkt zudem wie ein Appetitsanreger. So ist es kein Wunder, dass sein Team täglich etwa 18.000 Würste auf die Teller und in die Fünfer-Packungen bringt.

Während das Wurstrezept über die Jahre dasselbe geblieben ist und die Würste immer im Werk hergestellt wurden, lässt Volkswagen das Ketchup nach eigenem Rezept bei einschlägigen Firmen fertigen. Diese Rolle spielten über viele Jahre die Firmen Kraft und ihre Nachfolgerin Mondelez. Als letztere Anfang 2018 ihre Ketchupproduktion einstellte, mussten sch die Wolfsburger Wurstmacher um einen neuen Lieferanten kümmern - und fanden ihn in der Münchener Firma Develey, die sich in diesem Metier auskennt.

Der Wechsel fiel den Currywurstliebhabern in den Wolfsburger Werkskantinen zunächst gar nicht auf - bis eines Tages jemand auf das neue Etikett der Ketchup-flaschen schaute. Und dort waren plötzlich Gewürze aufgeführt, die auf den vormaligen Etiketten des früheren Lieferanten gefehlt hatten. Dort hatte als Zutat nur „Curry“ gestanden, was ja kein Gewürz benennt, sondern eine Gewürzmischung. Der neue Lieferant führte nun die Bestandteile einzeln auf, was zur Vermutung einer neuen Rezeptur führte.

Und nun passierte etwas, was uns im Leben immer wieder passiert: Wenn Augen und Gehirn eine (vermeintlich) neue Gewürzmischung registrieren, meinen die Geschmacksnerven, etwas Neues mache sich auf der Zunge breit. Große Aufregung: Nach dem Dieselskandal nun auch ein Ketchupskandal? Die feinen Unterschiede, die bei alter Angabe der Inhaltsstoffe wahrscheinlich gar nicht aufgefallen wären, resultierten etwa aus einem anderen Reifegrad der Tomaten oder anderen Anbaugebieten der Gewürze.

Über Wochen wurde immer wieder mit dem Ziel getestet, nicht unbedingt am herkömmlichen Rezept festzuhalten, das ja nicht verändert worden war, sondern den alten Geschmack wieder zu treffen. Feinstjustierungen waren angesagt. Wie man aus Wolfsburg hört, hat sich die Currywurst-Gemeinde mit dem neuen Ketchup versöhnt und es herrscht wieder die pure Essenslust ohne Frust. Currywürste kommen ja ohne oder mit Darm in ein heißes Fett, um dort Farbe und einen Basisgeschmack zu erhalten. Keine Norm schreibt vor, ob mit oder ohne Darm. Trotzdem ist sie natürlich EU-zertifiziert, ohne Glutamat, Milcheiweiß und Phosphate. Die Wolfsburger Mit-Darm-Wurst wird nicht nur in einen Zellulose-Kunstdarm gepresst. Sie erhält auch noch eine Aufschrift, weist die Wurst als „Volkswagen Originalteil“ aus.

Und wie alle Teile, die der Konzern als Original in Umlauf bringt, trägt die Currywurst nicht nur einen Namen. Sie wird auch mit einer Teilenummer ausgewiesen, der 199.398.500 A. „Kein anderes VW-Teil wird öfter produziert“, weiß der Wurst-Zuständige in der Presseabteilung Torsten Cramm. Trotz der Teilenummer kann die VW-Currywurst aber nicht beim Händler gekauft werden wie eine Lichtmaschine oder ein Kotflügel. „Aufgrund interner Verrechnungsprozesse ist es Volkswagen-Händlern nicht möglich, die Currywurst an Dritte weiter zu verkaufen. Allerdings überreichen einige Händler ihren Neuwagenkunden bei der Fahrzeugübergabe mittlerweile eine Packung Volkswagen-Currywurst als Präsent, anstelle eines Blumenstraußes.

Externe Kunden haben (im norddeutschen Raum) die Möglichkeit, sowohl die Volkswagen-Currybockwurst als auch den dazugehörigen Gewürzketchup über die Einzelhandelskette ‚Edeka‘ zu erwerben“, erläutert Pressesprecher Cramm. Dieses Angebot wird in großem Umfang angenommen. Nur 40 Prozent der Wolfsburger Würste werden in den VW-Werken verspeist, und 60 Prozent gehen in den Handel.

Im Wolfsburger Werk sorgen 17 Betriebsrestaurants für das leibliche Wohl der Werker. Ihr Lieblingsgericht ist - natürlich - die Currywurst. Mindestens eins ist immer offen, die Mitarbeiter können also Currywurst rund um die Uhr essen. Und natürlich steht diese Spezialität auch auf der Speisekarte für die Besucher in Wolfsburg, die etwa in der Autostadt ihren Neuwagen abholen oder sich nur in den Museen und Ausstellungen umschauen möchten.

Wer nebenan ein Fußballspiel des VfB Wolfsburg besucht, trifft dort auf die markeneigene Currywurst mit Kultstatus ebenso wie in den Kantinen der anderen deutschen VW-Werke. Auch Standorte im Ausland, wo ja auch immer einige deutsche VW-Angehörige für eine gewisse Zeit und einheimische Liebhaber einer deftigen deutschen Küche arbeiten, führen das spezielle Originalteil im Speiseplan.

Wem es Volkswagen zu verdanken hat, dass 1973 die Currywurst auf den Speiseplan geraten konnte, kann nicht mit Bestimmtheit gesagt werden. Einiges spricht dafür, dass sie Berliner Ursprungs ist. Verbürgt ist, dass Herta Heuwer im Charlottenburger Zentrum einen Schnell-Imbiss betrieb. Am 4. September 1949 hat sie dort erstmals eine rötlich-braune Soße aus Tomatenmark, geriebenem Paprika, Pfeffer und Curry (mit einer geheim gebliebenen Zusammensetzung) gemischt, die sie über eine zerschnittene Dampfwurst goss. Einige Quellen meinen, sie habe es aus Experimentierlust getan, andere wollen wissen, dass ihr der übliche Senf ausgegangen war und sie in ihrer Not schnell etwas Neues zusammengemischt habe.

Zum Curry, das damals in Deutschland noch weitgehend unbekannt war, sei sie über britische Soldaten gekommen. Wie dem auch sei, dieser Tag wurde zum Anlass genommen, dieses Jahr den 70. Geburtstag der Currywurst zu feiern.

Initiator dafür ist aber kein Berliner, sondern Tim Koch in Essen-Rüttenscheid. Er betreibt die Firma Bobby&Fritz mit 20 Filialen im geografischen Westdeutschland. Nach seinen Aussagen gäbe es glaubhafte Anzeichen, dass die Currywurst im Ruhrpott erfunden wurde. „Sie entspricht der Mentalität dieser Gegend, ist etwas für hart arbeitende Männer“. Alles, was er zum Thema zusammengetragen hat, will er aus Anlass des Jahrestages in einem Currywurst-Lexikon veröffentlichen. Und er arbeitet an einer Ausstellung im Ruhrmuseum.