1. Startseite
  2. >
  3. Deutschland & Welt
  4. >
  5. Beim Festival kämpft jeder für sich

Musikveranstaltung Beim Festival kämpft jeder für sich

Eine 29-jährige Magdeburgerin erlebt beim ersten Besuch des Hurricane Festivals in Scheeßel eine Parallelwelt mit neuen Hygiene-Standards.

26.06.2019, 13:45

Scheeßel l Freitagnacht. Die feierwütige Menschenmasse passiert, hocke ich nun im blauen Kunststoff-Kasten des Dixi-Klos und kralle mich in akkurater Yoga-Pose mit einer Hand am Türgriff fest. Nur nicht hinsetzen, nur nicht hinsetzen. Immer wieder zieht dieses Mantra wie ein Nebelschwall durch meinen längst nicht mehr klaren Kopf. Rumms! Ein lauter Knall. „Nein, bitte nicht!“, entfährt es mir.

Ein Blick nach unten. Klar ist: Ich war es nicht, ich hänge immer noch wie Tarzan an der Liane in der Luft. Während der Bass von den drei Hauptbühnen unter meinen Füßen pulsiert, dämmert es: mein Handy. Handy. Dixi-Klo. Handy nicht mehr in der Tasche. „Nein!“ Panik bricht aus. Es wird doch wohl nicht ... Also Hose hoch, Boden absuchen. Doch es scheint weg. Verschluckt von Fäkalien. Ich beschließe, dass das zwar mehr als ärgerlich, meine eigene Schamgrenze aber dennoch zu groß ist, um diesen letzten, erniedrigenden Schritt nun auch noch zu gehen und verabschiede mich innerlich bereits von Tausenden ungesicherten Fotos und Videos. Bedrückt öffne ich die Tür, schaue zu Boden und sehe meine Handyhülle im Türspalt funkeln. Erleichterung. Doch viel Zeit bleibt nicht, um dieses für ein viertägiges Festival angemessene Erfolgserlebnis zu feiern. Die Toten Hosen spielen gerade auf der großen Bühne. „Hier kommt Alex.“ Und ich will dabei sein, also los, schnell weiter, bloß nichts verpassen.

Es ist der erste von drei Abenden beim Hurricane Festival in Scheeßel, einem kleinen Ort zwischen Hamburg und Bremen. Eine graue Maus in Niedersachsen, die sich einmal im Jahr in Glitter hüllt und für drei Tage zum Mekka für rund 65.000 Musik-Enthusiasten aus Deutschland und Europa wird. 90 Auftritte, hauptsächlich aus den Sparten Rock, Indie und Alternative, stehen auf dem Programm, darunter Kult-Bands wie Foo Fighters und The Cure. Künstler wie Macklemore und Bosse heizen dem ohnehin schon dehydrierten Publikum für 72 Stunden ein.

Es ist mein erstes Mal. Seit ich Anfang 20 bin, steht „Festival“ auf meiner imaginären Liste mit den Dingen, die ich einmal im Leben machen möchte. Für jemanden, der die Erfindung sanitärer Einrichtungen sehr schätzt, ist bereits vor der Anreise klar: Es wird eine Herausforderung.

Auch wenn die Liebe zur Musik und die Lust zum Tanzen groß ist, weiß ich, dass meine eigene Toleranzgrenze in Bezug auf zumutbare Hygiene-Defizite schnell erreicht ist.

Camping? Eher nicht so mein Ding. Zudem warnen mich Freunde davor, dass ich im Dixi-Klo umgestoßen, Zelte am letzten Tag reihenweise abgebrannt werden und die meisten Besucher eh nur feierwütige Abiturienten sind, deren Anstand spätestens beim Anlegen des obligatorischen Festival-Armbandes die Flucht ergreift. Wird es wirklich so schlimm, frage ich mich vor der Abreise. Das Handy-Malheur längst vergessen, stehe ich an der Bar direkt vor der Bühne. Campino hat die mehr als 65.000 Zuhörer ähnlich fest im Griff wie ich meinen Plastikbecher.

Seit fünf Stunden sucht unsere Gruppe nach einer Freundin. Der erste Verlust. Im Gespräch mit anderen Festival-Besuchern wird die erste Grundregel schnell deutlich: Hier kämpft jeder für sich. Jeder verliert irgendwann irgendjemanden in der breiigen, schwitzenden Menschenmasse. Dann gilt: Musik genießen und tanzen, als ob dir niemand zusieht.

Und so wird mir schnell klar, dass man beim Festival auch eine Parallelwelt betritt. Würde mir daheim nie einfallen, allein einen Klub zu besuchen, ist der Ausdruck „ganz bei sich selbst sein“ hier mehr als angemessen. Zurück im Camp, liegt die verschollene Freundin längst im Schlafsack vergraben. Bevor wir es ihr gleichtun, folgt der obligatorische Gang zur Dusche oder das, was dem Konzept einer Dusche versucht, nahezukommen.

Zweite Regel: nie am Morgen duschen gehen. Nur am Abend ist das große weiße Zelt, in dem sich alte Eisen-Wasserhähne wie auf einer Perlenkette aufreihen und fremde Menschen – ohne Trennwände – nebeneinander Haare waschen und Rasierer benutzen, noch recht leer. Die Lektion: Für falsche Scham ist hier kein Platz.

Am nächsten Morgen suchen wir die Duschecke erneut auf. Diesmal, um die angrenzende Wasserstelle als Spülbecken für unser Geschirr zu nutzen. Gerade hat meine gute, aber noch nicht ganz wache Freundin unser Geschirr in das nicht mehr so klare Wasser vor mir geworfen, da tritt eine junge Frau neben mich und wäscht sich im gleichen Wasser die Hände. Für den Würgereiz am Morgen ist das ausreichend. Gut, dass wir fünf Liter Desinfektionsmittel im Gepäck haben.

Gezeichnet vom letzten Abend, beginnt anschließend der zehnminütige Spaziergang zum Zelt-Supermarkt in XXL-Größe, der kaum Wünsche offenlässt. Direkt daneben steht die große Pfandrückgabe-Station, weitere 100 Meter entfernt, kann man einen Müllsack abgeben und zehn Euro Pfand zurückbekommen. So soll das Müll-Chaos eingedämmt werden. Erstmals hat der Veranstalter FKP Scorpio 2019 Einweg-Plastik komplett verbannt und gelbe Säcke für Leichtverpackungen an alle Festival-Besucher verteilt. Leere Pfandbecher können für das Projekt „Viva con Aqua“ gespendet und übriggebliebene Nahrungsmittel am Foodsharing-Stand abgegeben werden. Auch in diesem Jahr ist der „Grüner-Wohnen“-Camping-Bereich beliebt. Mehr Ruhe ist garantiert und Müll darf nicht auf den Boden geschmissen werden. Erwischen die Ordner Campbewohner beim Verstoß, folgt der unfreiwillige Abgang.

Dieser bleibt uns zwar verschont, dafür sind die Folgen des ersten Abends groß. 80 Euro plus Personalausweis und Krankenkassenkarte hat eine Person bereits verloren. Aufeinander aufpassen, vor allem aber zusammen feiern, steht also für den zweiten Tag an. Treffpunkte werden ausgemacht. Ein netter Versuch. Am Ende finde ich mich dabei wieder, allein drei Stunden von Bühne zu Bühne zu hüpfend, weil meine Freunde entweder an anderen Bühnen stehen oder den dringend benötigten Mittagsschlaf abhalten. Ich ertappe mich dabei, wie ich die Augen schließe und bei 30 Grad die Arme in die Höhe recke, während Fünf Sterne Deluxe die Masse begeistert. Dabei ist deutscher HipHop so ziemlich das letzte, was man in meiner Playlist findet. Doch das ist hier egal. Denn beim Musikfestival gilt auch: Gib fremden Bands eine Chance.

Nachdem wir uns irgendwann wiedergefunden haben, stehen meine persönlichen Highlights auf dem Programm. Und so schön es auch ist, zu „Little Lion Man“ von den Mumford&Sons zu tanzen. Die Bühne mit einem bestens aufgelegten und großartig performenden Macklemore eher verlassen zu haben, war eine Fehlentscheidung. Doch das ist schnell verkraftet, denn nur einen Tag später sorgen die Foo Fighters für einen perfekten Abschluss.

Gerade will ich sagen, dass wir schon wieder jemanden verloren haben, da kommt unsere Freundin um die Ecke. Wir springen uns in die Arme, ohne eigentlich genau zu wissen, warum. Da ist dieses Glücksgefühl, das uns irgendwie zu umkreisen scheint. Am Ende sehe ich kein Zelt abbrennen, im Dixi-Klo stößt mich niemand um. Idioten? Gab es bestimmt, habe ich aber nicht getroffen. Nur Tausende Menschen, die dieses eine Wochenende so einzigartig machen wollen, dass es in Erinnerung bleibt. Festival ist anstrengend und schmutzig und doch ist klar: Ich komme wieder.