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Prozess Mitschuld am Hungertod?

Ein Zweijähriger stirbt an Unterernährung. Vor Gericht steht eine Jugendamts-Mitarbeiterin. Hätte sie den Tod verhindern können?

Von Wolfgang Dahlmann 06.04.2017, 23:01

Medebach (dpa) l „Hätten Sie die Kinder angeschaut, wäre der Tod nicht eingetreten.“ Amtsrichter Ralf Fischer macht der Angeklagten eindringliche Vorhaltungen. Die Frau auf der Anklagebank reagiert nicht. Sie ist Mitarbeiterin des Jugendamtes im Hochsauerlandkreises und betreute die Familie des kleinen Anakin. Jetzt steht sie wegen des Vorwurfs der fahrlässigen Tötung und der fahrlässigen Körperverletzung vor dem Amtsgericht Medebach.

Anakin wurde nur zwei Jahre alt. Er ist verhungert. Seine neun Monate alte Schwester konnte gerade noch gerettet werden. Drei Wochen bevor Ärzte die beiden Kinder zu Gesicht bekamen, war die Mitarbeiterin des Jugendamtes noch bei der Mutter von neun Kindern gewesen, offiziell wegen Auffälligkeiten des Ältesten in der Schule.

Bei der kleinen Tochter fiel der 28-Jährigen nichts auf. Das Mädchen sei ja auch angezogen gewesen, sagt die Frau vor Gericht. Dass die ärztlichen Belege für die nötigen Vorsorgeuntersuchungen fehlten, darüber soll sie hinweggegangen sein. Nach dem schlafenden Anakin sah sie auch nicht. Warum die Jugendamtsmitarbeiterin nicht genauer hinsah und ob sie dazu rechtlich verpflichtet war, das muss das Gericht jetzt klären.

Ihr Chef betont als Zeuge, wie schwierig solche Betreuungsaufgaben sind. Die Jugendämter müssten erst einmal einen Fuß in die Tür bekommen und Vertrauen aufbauen. Die Mutter habe sich dem Jugendamt gegenüber zumindest abweisend gezeigt. Am Vorgehen des Amtes werde sich bei aller Tragik des Falles deshalb nichts ändern. Amtsrichter Fischer ist von dieser Sichtweise nicht überzeugt: „Es ist die Frage zu klären, wie die Institution Jugendamt ihre Aufgabe erfüllen sollte.“

Das Jugendamt war vorgewarnt. Im Juni 2013 waren bei ihm Unterlagen der vorher zuständigen Behörde aus Sachsen eingegangen. Die Mutter hatte sich vom oft aggressiven Vater getrennt und war mit den Kindern ins Sauerland gezogen. In dem Schreiben schilderten die Kollegen aus Sachsen die jahrelangen Probleme der Mutter und ihrer Kinder. Von Kindeswohlgefährdung und Unterernährung war die Rede.