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Raumfahrt Der Kolumbus des Weltraums

Für viele Menschen auf der Erde war der sowjetische Kosmonaut Juri Gagarin ein Vorbild - aber ein Heiliger war er nicht.

Von Uwe Seidenfaden 27.03.2018, 01:01

Magdeburg/Moskau l Wer in heutiger Zeit in den Weltraum fliegen will, der kommt um eine Ausbildung im Gagarin-Trainingszentrum bei Moskau nicht herum. Alexander Gerst (42), jüngster deutscher Raumfahrer, ist hier oft zu Gast. Gegenwärtig trainiert er für seinen zweiten Flug zur Internationalen Raumstation ISS., der für Juni geplant ist.Eine Selbstverständlichkeit für jeden Astronauten und Kosmonauten ist es, vor der Abreise zum Startplatz in Baikonur frische Nelken am Grab Juri Gagarins an der Kremlmauer abzulegen.

Alexander Gerst weiß, was ihn im All erwartet. Als Gagarin am 12. April 1961 in den Weltraum flog, war das ganz anders. Von sechs vorangegangenen Raumflügen mit Hunden als Testpiloten waren nur die letzten beiden ein Erfolg. Zwei Missionen endeten tödlich und die anderen beiden Flüge überlebten die Tiere nur durch Zufall, berichtete der russische Raumfahrtkonstrukteur Boris Tschertok in seinem Buch „Raketen und Menschen“ (Elbe-Dnjepr-Verlag). Warum geht ein Mensch dennoch dieses Risiko ein?

Im Kindesalter erlebte Juri Gagarin den Einmarsch der deutschen Wehrmacht in sein Geburtsdorf Kluschino, rund 180 Kilometer westlich von Moskau. Die älteren Geschwister Walentin und Soja mussten Zwangsarbeit in Deutschland leisten. Eines Tages beobachtete Juri, wie ein sowjetischer Jagdflieger russische Soldaten aufnahm, um sie vor einer Gefangenschaft zu retten. Seither wollte er auch Flieger werden. Nach Kriegsende erfüllte sich dieser Wunsch.

Glückliche Umstände führten 1960 dazu, dass er in eine 20-köpfige Trainingsgruppe für den ersten Raumflug der UdSSR aufgenommen wurde. Nur dreieinhalb Jahre nach dem Start des ersten künstlichen Erdsatelliten Sputnik-1 flog der damals 27-jährige Russe in einer kugelförmigen Raumkapsel von rund zwei Metern Durchmesser einmal um die Erde. Nach 108 Minuten landete Gagarin wieder auf russischem Boden. Im damaligen Ostblock wurde der erste Raumflug eines Menschen als ein Sieg des Kommunismus über den Kapitalismus gefeiert. Im Westen war man hin- und hergerissen zwischen dem Schock, dass kein Amerikaner der erste Raumfahrer war, und echter Bewunderung für diesen jugendlichen, meist lächelnden Mann mit warmer Stimme, der gar nicht dem westlichen Klischee vom ungebildeten Russen ohne Manieren entsprach.

Der Kreml schickte den Sympathieträger auf Auslandsreisen. Gagarin beeindruckte die britische Königin Elisabeth II. ebenso wie den französischen Präsidenten de Gaulle. In Indien traf er Premierminister Nehru und in Ägypten den später ermordeten Staatspräsidenten Abdel Nasser. 1963 reiste er zusammen mit Walentina Tereschkowa, der ersten Frau im Weltraum, durch die DDR.

Zurück in der Sowjetunion, leistete Gagarin sich mehrere Disziplinverstöße und Alkohol-Exzesse, von denen die Öffentlichkeit aber erst viele Jahrzehnte später, nach Offenlegung von Aufzeichnungen seines damaligen Vorgesetzten, erfuhr. Zu diesen Eskapaden zählt auch eine Affäre, die Gagarin mit einer Krankenschwester namens Anja auf der sowjetischen Halbinsel Krim hatte. Als Ehefrau Walentina ihren Mann auf frischer Tat ertappte, sprang dieser aus dem Fenster eines zweistöckigen Gästehauses und schlug mit dem Kopf auf eine Betonmauer, berichtet der deutsche Gagarin-Biograf Gerhard Kowalski im Buch „Der unbekannte Gagarin“ (Machtwortverlag 2015). Beim Sturz erlitt der Kosmonaut schwere Kopf- und Hautverletzungen. Die Narbe unterhalb des linken Auges wurde der Öffentlichkeit mit einer Verletzung beim Spiel mit seiner Tochter Jelena erklärt.

Es war nicht das erste Mal, dass Walentina von den Abenteuern ihres Mannes überrascht wurde. Auch vom Start in den Weltraum hörte Walentina Gagarina erst im Moskauer Radio. Doch das war nicht die Schuld Gagarins. Die Staatsführung hatte strikte Geheimhaltung des Fluges bis kurz vor der Landung verfügt. Dass Juri auch getauft war, blieb ein Geheimnis bis zum Untergang der UdSSR. 1967 hatte die staatliche Kommission für Raumflüge in Moskau Juri Gagarin erneut für einen Raumflug eingeplant. Vorgesehen war der erste bemannte Test eines neuen Raumschiffs. Gagarin sollte für seinen Trainingspartner Wladimir Komarow einspringen, falls dieser aus gesundheitlichen Gründen den Flug nicht antreten könnte. Dazu kam es nicht. Komarow flog und kam bei der Landung ums Leben. Über Gagarin hat ein Schutzengel wieder einmal seine Flügel gehalten.

Nur ein Jahr später, am 27. März 1968, endete das Leben des ersten Raumfahrers der Menschheit. An diesem Tag plante Gagarin zusammen mit dem Fluglehrer Wladimir Seregin einen Trainingsflug mit einer Mig-15. Nur etwa zehn Minuten nach dem Start riss der Funkkontakt abrupt ab. Das Flugzeug war abgestürzt und beide Piloten sofort tot. Mit einem öffentlichen Staatsbegräbnis, zu dem Hunderttausende Menschen kamen, wurde Gagarins Urne an der Kremlmauer bestattet. Als dürftige Erklärung für den Flugzeugabsturz nannte die Staatsführung eine Verkettung ungünstiger Umstände. Diverse Verschwörungstheorien sind seither im Umlauf: Gagarin soll beim Flug unter Alkoholeinfluss gestanden haben.

Andere Gerüchte vermuten eine Aktion des Geheimdienstes KGB. Details aus den Akten der staatlichen Kommission, die 1968 den Unfall untersuchte, erfuhren Gagarins Ehefrau und die Öffentlichkeit erst knapp ein halbes Jahrhundert später. Danach hatten schlechte Sichtbedingungen, Fehlbeladungen des Trainingsflugzeugs und die Unerfahrenheit Gagarins zu der Tragödie beigetragen. Letztlich ungeklärt blieb, ob Gagarin beim plötzlichen Ausweichen vor einem Wetterballon, vor einem andern Flugzeug oder bei einem Flugmanöver vor dem Durchbrechen der Wolkendicke ins Trudeln geriet. Ironie des Schicksals: 1995 endete das Leben des dritten deutschen Raumfahrers, Reinhard Furrer, bei einen Trainingsflug anlässlich der Luftfahrtmesse ILA Berlin ebenfalls bei einem Flugzeugabsturz.

Der Beliebtheit des ersten Kosmonauten hat sein früher Tod nicht geschadet. Jedes Jahr am 12. April feiern Jugendliche in Dutzenden Ländern die sogenannte „Juris-Nacht“ mit Wissenschafts-Shows, viel Musik, Tanz und moderner Kunst. Unmittelbar nach dem Zerfall der UdSSR war das noch anders. Die einstigen Helden der Sowjetunion gerieten in Vergessenheit. Juris Witwe und andere Veteranen des Kosmos erhielten nur eine sehr kleine staatliche Pension von rund 250 Rubel. Russlands Präsident Wladimir Putin erhöhte das Salär und ernannte Gagarins erstgeborene Tochter Jelena (59) zur Generaldirektorin der Kreml-Museen. Die jüngere Tochter Galja (57) ist eine angesehene Dozentin für Ökonomie in Moskau.

Witwe Walentina (81) lebt heute in einer Plattenbauwohnung im Sternenstädtchen bei Moskau. Vom Fenster aus kann sie auf ein überlebensgroßes Monument ihres Mannes blicken. In seinen Händen, die er hinter dem Rücken hält, steckt ein Blumenstrauß, so, als wollte er Walentina um Verzeihung für verlorene Jahre bitten.