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Digitalisierung Verdi-Chef Greie: Wir stehen am Anfang

Die Digitalisierung wird in Sachsen-Anhalt mehr Jobs vernichten als schaffen, warnt Oliver Greie. Er fordert kürzere Arbeitszeiten.

27.12.2016, 23:01

Magdeburg l Die Digitalisierung wird in Sachsen-Anhalt mehr Jobs vernichten als schaffen, warnt Verdi-Landeschef Oliver Greie. Im Volksstimme-Interview fordert er kürzere Arbeitszeiten und neue Tarifregelungen für das digitale Arbeiten von zu Hause aus. Als vorbildlich bezeichnet Greie den neuen Tarifvertrag bei der Deutschen Telekom, der unter anderem eine 36-Stunden-Woche vorsieht.

Volksstimme: Herr Greie, die Digitalisierung erfasst zunehmend auch Sachsen-Anhalt, ist sie eine Chance oder eine Bedrohung für Sie?

Oliver Greie: Ich sehe die Digitalisierung als Chance, mit der Risiken verbunden sind. Klar ist, dass wir sie nicht aufhalten können. Als Gewerkschaft werden wir deshalb auch gar nicht erst versuchen, auf die Bremse zu treten. Sondern wir werden schauen, dass wir die Digitalisierung so gestalten, dass die Arbeitnehmerrechte gewahrt bleiben.

Laut einer Studie der Bundesagentur für Arbeit könnten bis zu 100 000 Stellen in Sachsen-Anhalt wegfallen, weil die neuen Techniken einige Jobs überflüssig machen. Für die Gesellschaft stellt sich hier die Frage, was wir mit den Leuten machen, die neue Jobs brauchen. Natürlich werden auch neue Arbeitsplätze entstehen, aber wir werden darauf achten müssen, dass es sich hier um sozialversicherungspflichtige Stellen handelt, von denen man leben kann.

In welchen Branchen rechnen Sie mit den größten Umbrüchen?

Roboter und vernetzte Maschinen werden nicht nur in der Automobilindustrie oder im verarbeitenden Gewerbe Stellen überflüssig machen, auch der Dienstleistungsbereich wird durch die Digitalisierung einen Umbruch erleben. Bereits in vollem Gang ist dieser im Bereich der Finanzdienstleistungen. Schon jetzt nutzen viele Kunden das Online-Banking und gehen nicht mehr in die Filiale. Auch im öffentlichen Dienst werden effizientere Computerprogramme Stellen überflüssig machen. Die ganze Post wird bald nur noch elektronisch verarbeitet. Busse und Bahnen fahren in nicht allzu ferner Zukunft autonom durch die Straßen, auch hier fallen Jobs weg.

Wie wird sich der Arbeitsalltag der Menschen verändern?

Ich glaube, sowohl positiv als auch negativ. Kritisch sehe ich beispielsweise die wachsende Überwachung der Beschäftigten am Arbeitsplatz. Viele Firmen haben in ihren Werken bereits computergesteuerte Schließanlagen und geben digitale Ausweise aus. Dadurch können sie Bewegungsprofile von ihren Mitarbeitern erstellen. Ich nehme mal ein Beispiel aus dem vergangenen Jahr: Bei Amazon in Leipzig haben sich zwei Beschäftigte während der Arbeitszeit unterhalten, aber nur ganz kurz. Es ging um etwa eine Minute, aber der Arbeitgeber hat das genau registriert und die Beschäftigten hinterher darauf hingewiesen, dass sie fürs Arbeiten bezahlt werden und nicht für das ineffiziente Stehen an einem Fleck.

Aber die Digitalisierung bringt auch Positives mit sich. Künftig werden Menschen häufiger als bisher von zu Hause arbeiten können und dadurch Familie und Beruf besser unter einen Hut bringen. Wichtig hierbei ist nur, dass die Heimarbeit auch klar geregelt wird.

Inwiefern?

Es muss klar sein, was die Beschäftigten dürfen und was nicht. Auch Haftungsfragen müssen geregelt werden und am allerwichtigsten: die Arbeitszeiten. Ist die Arbeitszeit erst dann zu Ende, wenn ich das Projekt für den Chef fertig gemacht habe? Also womöglich nicht nach acht, sondern erst nach zehn Stunden? Oder hat der Chef das nötige Vertrauen und weiß, dass ich für das Projekt mehr als einen Tag brauche? Oft neigen Arbeitnehmer dazu, zu Hause mehr zu tun als im Büro, weil sie einen guten Eindruck hinterlassen wollen. Deshalb ist es wichtig, klare Regelungen zu treffen.

Gibt es denn schon Unternehmen, die entsprechende Regeln aufstellen?

Die Deutsche Telekom geht mit gutem Beispiel voran. Das Unternehmen hat einen Tarifvertrag geschlossen, der auch das Arbeiten von zu Hause regelt. Gut finde ich dabei, dass die Mitarbeiter, die sich dafür entscheiden, weiterhin einmal die Woche ins Büro kommen müssen. Dadurch verlieren sie nicht den persönlichen Kontakt zu den Kollegen und ihrem Chef und können auch persönlich über Probleme reden. Der Tarifvertrag sieht zudem eine 36-Stunden-Woche vor.

Wie weit sehen Sie die Debatte um die Zukunft der Arbeit in Sachsen-Anhalt vorangeschritten?

Wir stehen hier noch ziemlich am Anfang. Ich wünsche mir von der Landesregierung, dass sie mal eine Digitalisierungskonferenz mit Arbeitnehmer- und Arbeitgebervertretern macht. In der Runde sollten wir dringend diskutieren, welche Folgen die Digitalisierung für die Arbeitsplätze im Land hat.

Was sollte die Politik tun, um mögliche negative Folgen abzumildern?

In Bildung investieren. Im Land herrscht Lehrermangel, viel zu oft fällt Unterricht aus. Das Land sollte endlich weg von einer Politik der kleinen Schritte. Die Kinder werden nur dann vernünftige Berufsperspektiven in der digitalen Welt haben, wenn sie frühzeitig vorbereitet werden.

Welche Rolle spielt die Digitalisierung denn heute schon bei Tarifverhandlungen?

Wir werden verstärkt mit ihr konfrontiert, wenn Firmen ihren Posteingang digitalisieren wollen. Dann fangen wir an, zu schauen, wie wir das sozialverträglich regeln. In der Regel gelingt es, die betroffenen Beschäftigten weiterzubilden und an anderer Stelle im Unternehmen einzusetzen. Manche gehen auch vorzeitig in Rente. Fraglich ist aber, ob wir das in Zukunft auch noch so ohne Weiteres hinbekommen.

Wie könnte denn verhindert werden, dass durch die Digitalisierung am Ende doch mehr Jobs wegfallen als hinzukommen?

Wir müssen künftig verstärkt wieder über Arbeitszeiten diskutieren. Wenn die Arbeitnehmer bei vollem Lohnausgleich weniger arbeiten würden, könnten mehr Menschen beschäftigt werden, die Arbeit würde so besser aufgeteilt. Mir persönlich gefällt in dieser Hinsicht der Tarifvertrag der Telekom mit der 36-Stunden-Woche.

Unterm Strich ist es aber teurer für Unternehmen, mehr Menschen bei geringerer Arbeitszeit zu beschäftigen.

Das ist der kapitalistische Grundgedanke, das stimmt. Die Firmen würden geringere Gewinne erzielen – aber was ist die Alternative? Die Alternative wäre, wir würden eine Zwei- oder Drei-Klassen-Gesellschaft entwickeln. Schon jetzt werden ja die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer. Irgendwann wird aber der Zeitpunkt kommen, an dem die Armen dann aufbegehren. Und ich finde, wir sollten es erst gar nicht so weit kommen lassen. Wir sollten schrittweise die Arbeitszeiten in Deutschland senken.