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Grubenunglück"Wie ein Gehirnschlag"

Fast einen Kilometer tief im Berg sterben unter Zwickau 123 Kumpel. 60 Jahre später klingt die Explosion noch immer nach.

22.02.2020, 23:01

Zwickau (dpa) l Die Sonne war gerade erst gut eine Stunde zuvor aufgegangen, als wie aus dem Nichts über Zwickau die wohl dunkelste Stunde des Bergbaus in der DDR hereinbrach. 950 Meter unter ungefähr dem Areal, auf dem sich der Friedhof im Ortsteil Eckersbach befindet, erschütterte am 22. Februar 1960 um 8.20 Uhr eine verheerende Explosion das Steinkohlerevier. Von 174 Männern der Frühschicht kehrten 123 nicht mehr lebend ans Tageslicht zurück, manche von ihnen wurden nie geborgen. Die Jüngsten der Opfer waren noch nicht einmal volljährig.

Zum 60. Mal jährt sich am Sonnabend die Katastrophe, die Zwickau, die betroffenen Familien und auch ehemalige Bergleute noch bis heute aufwühlt. „Das hat nicht nachgelassen“, sagt Karl-Heinz Baraniak. Der 82-Jährige war damals für die Ausbildung von Handwerkern zuständig, die unter Tage für Strom und funktionierendes Abbaugerät sorgten. Heute leitet er den Steinkohlenbergbauverein Zwickau.

Klaus Hertel hat sich gleich links im Vorraum seines Hauses eine bergmännische Traditionsecke eingerichtet. „Ich war rund 30 Jahre unter Tage“, berichtet er. Schon sein Vater und sein Großvater waren Bergleute. Der 83-Jährige hat eine wohl einmalige Beziehung zum schwersten Grubenunglück der DDR. Ein Klaus Hertel starb damals in der Tiefe – ein Mann, mit dem er keine Gemeinsamkeit hatte, bis auf den Namen. Dennoch sei damals Beileidspost an seine Adresse geschickt worden. „Aber hier sitzt er und lebt“, sagt Baraniak.

Den beiden Bergbau-Veteranen hat das Zechenunglück keine Ruhe gelassen. Stimmt es, dass ein Selbstmord der Auslöser war? Konnte wirklich, wie offiziell verlautet, ein Erdbeben in Nordafrika verantwortlich sein? Oder wurde bei der Sicherheit geschlampt?

Baraniak und Hertel machten sich mit ihrem Verein sowie Mitarbeitern des Zwickauer Kulturamtes und des Stadtarchivs auf die Suche. Detektivisch wurden Unmengen von Akten durchgesehen, ausgewertet, die Ergebnisse akribisch zusammengetragen und 2010 in dem Buch „Die Grubenkatastrophe im VEB Steinkohlenwerk Karl Marx Zwickau vom 22. Februar 1960“ veröffentlicht.

„Dieses Buch ist ein Tatsachenbericht“, betont Hertel. Unentgeltlich hatten sie geforscht. Die Stadt Zwickau steckte über das Kulturamt fast 22 500 Euro in das Werk. Die Auflage von 1980 Exemplaren ist vergriffen. Die Einnahmen flossen an die Stadt zurück, wie ein Sprecher mitteilt.

Fast acht Jahre lang wühlten die Ehrenamtler und ihre Mitstreiter sich durch zahlreiche Archive – und dabei auch durch die Berichte des Ministeriums für Staatssicherheit, das 1960 die Ermittlungen in der Hand hatte. „Die Stasi hatte damals das alleinige Vorrecht, unter Tage zu forschen“, berichtet Hertel, „die kamen zu absichtlich falschen Schlüssen.“

Unbestrittener Grund für das Unglück ist eine Schlagwetter- und Kohlenstaubexplosion. Doch was löste sie aus? „Erdstöße führten in den Tagen vor dem Unglück und am 22. Februar selbst zu Gebirgsbewegungen im Zwickauer Raum und ermöglichten dadurch Methan-Austritte“, verbreitete die DDR-Nachrichtenagentur ADN am 18. März 1960 die offizielle Version. Damit wurde Bezug genommen auf ein Erdbeben im marokkanischen Agadir. Das ereignete sich aber erst eine Woche später – und war als Ursache schnell widerlegt.

Wenn die Rede auf mögliche Sicherheitsmängel in der Grube kommt, empört sich Klaus Hertel noch immer. Sicherheit im Bergbau sei immer oberstes Gebot gewesen. „An der Sicherheit wurde nicht gespart. Da gibt es nichts zu deuteln“, sagt der frühere Diplomingenieur für bergmännische Vermessung mit Nachdruck. Und fügt an: „Deswegen war die Katastrophe wie ein Gehirnschlag.“

Für das Gerücht, dass ein gehörnter Ehemann Selbstmord begehen wollte und dadurch die Explosion auslöste, haben Baraniak, Hertel und ihre Mitstreiter keine Bestätigung gefunden. „Unsachgemäßer Umgang mit Sprengstoff hat die Katastrophe verursacht“, sagen sie unisono. Die Explosion fand an der Stelle im Stollen statt, an der sich laut Akten „Schießmeister Y“ aufgehalten hat. Der Name dieses Sprengmeisters wird nicht genannt. „Alle, die rausgekommen sind, haben einen Knall gehört“, erzählt Baraniak.

Der Verursacher ist einer der 123 Toten. Die Dramatik nach der Explosion unter Tage kann sich niemand vorstellen. Durch Räume, die normal zwischen 28 und 32 Grad Celsius Lufttemperatur hatten, zogen sich die Hitze des Feuers und die verdorbene Luft. 460 Kräfte aus Grubenwehren der ganzen DDR sowie aus Tschechien kämpften tagelang um die Kumpel und gegen die Flammen. Vergebens. Ein Abschnitt musste zugemauert werden, um den Brand einzudämmen. Erst ein Jahr später wurde er wieder geöffnet. 17 Männer blieben für immer im Berg.

Wie in jedem Jahr seit 1990 gedenken die Zwickauer am 22. Februar der Toten des Grubenunglücks. In der Moritzkirche findet von 8.30 Uhr an eine ökumenische Gedenkfeier statt. Begleitet vom Glockenläuten der Kirchen in Zwickau und den umliegenden Gemeinden formiert sich anschließend ein Trauerzug zum Hauptfriedhof. Bei der stillen Kranzniederlegung an den Gedenksteinen wird es traditionell keine Reden geben.