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Industrie Ost-Chemie berappelt sich aus tiefem Tal

Nach der Wende hatte es die Chemie-Branche in Sachsen-Anhalt nicht leicht. Nun wird aber wieder kräftig investiert.

22.07.2019, 23:01

Leuna/Schwarzheide (dpa) l Basislack für die Autoindustrie, Schaumstoff für Sportschuhe oder Wirkstoffe für Pflanzenschutzmittel: Das alles gehört zur Produktpalette des Chemieriesen BASF an seinem Standort in der brandenburgischen Lausitz. Rund 2000 Mitarbeiter arbeiten derzeit in Schwarzheide. Es sollen mehr werden, kündigte das Unternehmen an, ohne konkreter zu werden. Dazu will es vor Ort einen dreistelligen Millionenbetrag investieren.

Die kleine Stadt ist ein Traditionsstandort. Für BASF, das bereits 1990 dorthin kam, aber auch für die Chemiebranche generell. In der DDR stellten hier mehrere volkseigene Betriebe (VEB) etwa Unkrautvernichter her. Auch Leuna, Bitterfeld-Wolfen, Schkopau, Riesa oder Böhlen sind als Standorte mit Chemie-Werken noch da – die alten Betriebe und ein Großteil der Arbeitsplätze nicht mehr.

"Wir sind durch ein tiefes Tal gegangen", sagt die Hauptgeschäftsführerin des ostdeutschen Branchenverbandes VCI Nordostchemie, Nora Schmidt-Kesseler, in Berlin. Unwirtschaftliche und umweltschädigende Betriebe waren nach der Wende abgewickelt worden – von der Treuhand, die mit der Privatisierung der ostdeutschen Wirtschaft beauftragt war. Viele junge Menschen sahen für sich damals kaum berufliche Chancen, zumal ganze Familien, die in Chemiekombinaten gearbeitet hatten, mangels Alternativen arbeitslos wurden.

Daten des Verbands drücken aus, wie drastisch der Umbruch war: Nach dem Mauerfall sank die Zahl der Mitarbeiter in der Ost-Chemie binnen drei Jahren von rund 190.000 auf 86.600. Zur Jahrtausendwende waren es nur noch rund 40.000. Inzwischen sieht es wieder deutlich besser aus. Gut 57.000 der bundesweit 440.000 Beschäftigten in der Chemischen Industrie arbeiten in Ostdeutschland. In den ersten drei Monaten dieses Jahres machte die Ost-Chemie 6,1 Milliarden Euro Umsatz. Im gesamten Vorjahr waren es 26 Milliarden Euro – rund 12 Prozent des gesamtdeutschen Branchenumsatzes.

"Heute steht die chemische Industrie in Ostdeutschland sehr gut da. Aus den großen VEBs, die nicht wettbewerbsfähig waren, sind viele mittelständisch geprägte Betriebe entstanden, die heute das Rückgrat der Chemie im Osten bilden", sagt Schmidt-Kesseler. Statt Massenentlassungen spürt die Branche längst das gegenteilige Problem: Fachkräftemangel. Dabei seien die Jobs heute deutlich attraktiver als einst, etwa dank flexibler Arbeitszeitregelungen.

Doch die Abwanderung nach der deutschen Einheit wirkt nach. Der demografische Wandel trifft die Betriebe in Ostdeutschland besonders. Zudem sind die maroden Kombinate und Dreckschleudern von einst 30 Jahre nach dem Mauerfall zwar modernen Betrieben gewichen. Doch Konzernzentralen finden sich hier kaum.

Vor allem die höherwertigen Arbeitsplätze und die Forschung und Entwicklung ist nicht im Osten angesiedelt, kritisiert der Vize-Chef des Dresdner Ifo-Instituts, Joachim Ragnitz. Auch die Gewerkschaft sieht das Fehlen von Konzernzentralen kritisch. Zudem hätten sich gerade kleinere Firmen in der Ostchemie um Tarifverträge gedrückt, statt den sich abzeichnenden Fachkräftemangel ernst zu nehmen, sagt Oliver Heinrich, Landesbezirksleiter der Industriegewerkschaft IG BCE. "Mit Lohndumping bekommt man keine Fachkräfte."

Über die Geschicke der BASF-Produktion in Schwarzheide entscheidet die Zentrale in Rheinland-Pfalz. Der Pharmariese Bayer produziert in Bitterfeld im großen Stil sein Kopfschmerzmittel Aspirin, sitzt aber im nordrhein-westfälischen Leverkusen und unter dem Namen Dow gibt es zwar mehrere Chemie-Werke in Ostdeutschland. Dahinter steckt aber ein US-amerikanischer Großkonzern. Viele Ansiedlungen wurden mit immensen Summen aus der öffentlichen Hand gefördert.

In Leuna prägt die Mineralöl-Raffinerie das Bild. Vor 25 Jahren ist sie als damals größtes deutsch-französisches Wirtschaftsprojekt der Nachkriegszeit gestartet. Der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) griff aus diesem Anlass selbst zum Spaten. Heute gehört die Raffinerie zu Total, Hauptsitz Paris. In ihrer direkten Umgebung sind mehr als 100 Firmen aus dem In- und Ausland ansässig.

Der Standort gilt als ein Vorreiter für Chemieparks, von denen es inzwischen Dutzende in Deutschland gibt. Und er will Vorreiter bleiben. Erst vor wenigen Tagen bekam ein Konsortium um Siemens und Linde vom Bundeswirtschaftsministerium grünes Licht für das ambitionierte Vorhaben, in Leuna "die weltweit größte Elektrolyse-Anlage" für grünen Wasserstoff aufzubauen. Ein Reallabor soll erproben, was das Element als Energiespeicher der Zukunft im groß angelegten Praxistest kann.

Und auch in Bitterfeld-Wolfen klopft eine Zukunfts-Technologie: Fast in Sichtweite des Büros des dortigen Chemiepark-Chefs Michael Polk will der US-Hersteller Farasis bis 2023 rund 600 Millionen Euro in ein Batteriewerk für E-Fahrzeuge investieren und mehr als 600 neue Arbeitsplätze schaffen. "Davon wird auch unser Chemiestandort profitieren", sagt Polk.

"Hier tut sich überall was, wir wachsen auch stark von innen heraus", fährt er fort. "Wir haben hier einen Mix aus Global Playern und einem starken Mittelstand." Rund 300 Unternehmen mit etwa 12.000 Beschäftigten sind im Chemiepark.

Das brandenburgische Schwarzheide ist für BASF einer der größten Produktionsstätten in ganz Europa. Zeitnah soll jetzt das standorteigene Kraftwerk modernisiert werden. Dann könnte nicht nur erneuerbarer Strom in der Produktion eingesetzt, sondern auch ins Netz eingespeist werden, wie es von der Geschäftsführung hieß.