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Der Tatort und seine Sucht nach Aufmerksamkeit

Der ARD-Tatort besorgt sich ständig neue Geschmacksverstärker. Er will im Gespräch bleiben - wie jetzt mit der Verpflichtung von Harald Schmidt. Doch hat ein Ritual so etwas überhaupt nötig?

Von Carsten Rave, dpa 09.12.2015, 15:12

Berlin (dpa) - Dieser Überraschungscoup ist dem Südwestrundfunk wahrhaft gelungen: Harald Schmidt (58) wird Chef der Ermittler im neuen ARD-Tatort.

Auch wenn noch längst nicht feststeht, was für grausame Verbrechen sich in seinem Zuständigkeitsgebiet rund um den Schwarzwald ereignen: Mit der Verpflichtung des ausgedienten TV-Komikers hat der Sender wieder einmal der Lieblingsreihe von Deutschlands Fernsehpublikum hohe Aufmerksamkeit beschert.

Aber braucht der Tatort überhaupt noch solchen Schmierstoff, um im Gespräch zu bleiben? Denn die Sendung, fast jeden Sonntag um 20.15 Uhr im Programm, ist für rund zehn Millionen Menschen in Deutschland längst ein unverzichtbares Stück ihres Alltags geworden.

Der Fernseher läuft sonntags sowieso, das Ritual ist längst Routine. In etwa so, wie es Privat-TV-Pionier Helmut Thoma einmal von der Tagesschau gesagt hat: Man kann sie auf Latein bei Kerzenlicht verlesen - eingeschaltet werde immer.

Doch man muss Affen immer wieder Zucker geben, sagen Experten. Nach 45 Jahren der Reihenausstrahlung bilden neben den Kontinuitäten Innovationen etwa im Bereich Comedy ein wichtiges Attraktionspotenzial, das den 'Tatort' am Leben hält, erklärte die Hamburger Medienwissenschaftlerin Joan Kristin Bleicher im Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur am Mittwoch. Aus meiner Sicht ist diese Personalie eine wichtige Entscheidung, um die Qualität und die Attraktivität des "Tatorts" auch künftig zu erhalten.

Dennoch liegen die Gefahren auf der Hand: Dem SWR ist mit dem Engagement von Schmidt ein Coup gelungen - der aber womöglich eine Gefahr birgt, schrieb der Tagesspiegel. Denn der 58-jährige Entertainer und Schauspieler tummelt sich ungern in der zweiten Reihe. Die Tageszeitung Die Welt setzte einen drauf: Wenn es eine freigewordene Stelle zu besetzen gilt, wird erstmal nach einem möglichst bekannten Kopf gefahndet. Der garantiert Aufmerksamkeit, und zur Not kaschiert er auch schwache Drehbücher, die es natürlich auch beim "Tatort" immer wieder gibt.

SWR-Fernsehfilmchefin Martina Zöllner war bereits bei der Vorstellung der neuen Besetzung für den Tatort Schwarzwald am Dienstag möglicher Kritik entgegengetreten: In die Münster-Richtung wollten wir nicht. Dort schaffen es die beiden Ermittler Boerne (Jan Josef Liefers) und Thiel (Axel Prahl) schon seit Jahren, ihr Publikum mit Crime und Comedy zu unterhalten und erreichen damit die besten Einschaltquoten aller Tatort-Krimis. Zuletzt lagen sie mit dem Film Schwanensee bei mehr als 13 Millionen Zuschauern.

Wer in die Geschichte von Deutschlands populärster TV-Reihe guckt, wird jedoch feststellen, dass die Verpflichtung des Privatiers mit abgeschlossener Vermögensbildung (Schmidt über Schmidt vor anderthalb Jahren im Hörfunksender SWR1) längst kein Einzelfall ist. Auch andere Personalien waren auf Effekt aus: Zuletzt spielte der Bild-Mann Kai Diekmann eine Leiche im Krimi Spielverderber, dem Tatort mit Charlotte Lindholm (Maria Furtwängler) aus Hannover.

Der Schlagersänger Roland Kaiser trat 2013 bei Liefers und Prahl im Film Summ, summ, summ als Schlagersänger Roman König auf. 2011 liefen in der Ludwigshafener Fußball-Folge Im Abseits der damalige DFB-Präsident Theo Zwanziger, die Nationalspielerin Celia Sasic sowie Team-Manager Oliver Bierhoff und Bundestrainer Joachim Löw durchs Bild. Der Modemacher Rudolph Moshammer spielte 2000 im Tatort: Blaues Blut einen Adelstitel-Händler. Die Schlagersängerin Helene Fischer ist demnächst im Til-Schweiger-Tatort dabei.

Auch thematisch heiße Eisen werden ab und an angepackt, um Publikum abzugreifen, ob es um eine Geiselnahme wie in einem aus Jugendschutzgründen erst nach 22 Uhr gesendeten Kölner Tatort ging oder jüngst um den möglicherweise ersten schwulen Kommissar der Reihe: Es gehe auf jeden Fall um Themen, über die man dann am nächsten Morgen spricht und streitet, sagte der WDR-Fernsehspielchef Gebhard Henke vor ein paar Monaten der dpa. Das ist Kitt für die Gesellschaft. Und wenn Sie mich jetzt fragen, warum das so ist, dann muss ich Ihnen sagen: Weiß ich nicht.