TV-TippDer Überläufer

Siegfried Lenz war 25, als er seine letzten Kriegstage in einem Buch verarbeitete. Wenige Wochen vor dem 75. Jahrestag des Zusammenbruchs ist nun die Filmfassung zu sehen. Regie führte ein Oscar-Preisträger.

Von Klaus Braeuer, dpa 07.04.2020, 23:01

Berlin (dpa) - Die Zeitzeugen sterben weg, die Erinnerungen an die Zeit von Nazi-Unrecht und Krieg in Deutschland verblassen. Umso wertvoller ist es, sich gerade jetzt mit den Schilderungen von Siegfried Lenz (1926-2014) in seinen Romanen und Erzählungen zu beschäftigen.

Sein als letzter erschienener Roman "Der Überläufer", 1951 entstanden, kommt nun ins Fernsehen. Der Zweiteiler über einen jungen Soldaten in den letzten Gefechten des Jahres 1945 läuft an diesem Mittwoch und am Karfreitag jeweils um 20.15 Uhr im Ersten - nur wenige Wochen vor dem 75. Jahrestag des Kriegsendes am 8. Mai.

Der Hauptdarsteller von "Der Überläufer", Jannis Niewöhner, ist erst 28 Jahre alt und zwei Generationen von den Gräueln entfernt. "Mein Opa war im Krieg und hat dort seine Hände verloren. Er hat aber nicht viel darüber erzählt, ich habe eher mit meiner Mutter darüber gesprochen. Dadurch habe ich erfahren, was gewesen war und versucht, das in Bezug auf das Heute zu setzen", sagt Niewöhner im Interview der Nachrichtenagentur dpa.

Das helfe ihm jetzt bei solch einem Film wie "Der Überläufer", nämlich sich mit den Gefühlen der Figuren auseinanderzusetzen. "Also dass man Dinge getan hat, die im Grunde völlig gegen das waren, von dem man wusste, dass es richtig ist".

Und darum geht es in diesem wichtigen Film: "Bitte bleib'!" und "Scheiß’ aufs Vaterland" - mit diesen deutlichen Worten gibt Vater Proska (Shenja Lacher) seinem Sohn Walter (Niewöhner) zu verstehen, dass er im Juli 1944 nicht von der masurischen Heimat an die Ostfront zurückkehren soll - das Versteck im Keller hat Walters Schwester (Katharina Schüttler) bereits vorbereitet. Doch er steigt in den Zug und trifft unterwegs bei einem Halt auf die junge polnische Partisanin Wanda (Malgorzata Mikolajczak).

Diese Begegnung - er nennt sie zärtlich "Eichhörnchen" - und die spätere Freundschaft mit seinem Kameraden Kürschner (Sebastian Urzendowsky) lassen ihn immer mehr am Krieg zweifeln. Seine Truppe ist umzingelt von Partisanen, abgeschnitten von der Front, und die Befehle des kommandierenden Unteroffiziers Willi Stehauf (Rainer Bock) in der Baracke "Waldesruh" erscheinen ihm sinnlos und menschenverachtend.

Als Proska in die Gefangenschaft der Roten Armee gerät, läuft er zum Feind über. Nach der Kapitulation Deutschlands machen die ehemaligen Soldaten Proska und Kürschner rasch Karriere in der sowjetischen Besatzungszone in Berlin. Proska erfährt, dass die "Stunde Null" nur eine Fiktion ist - er wird zeit seines Lebens ein Überläufer bleiben.

Niewöhner ("Narziss & Goldmund") spielt die tragende Hauptrolle einfach grandios und legt sie als integre, eher wortkarge Figur an, die ganz sicher kein Held ist, sondern unfassbar viel Glück und ein klares Ziel vor Augen hat: Überleben. Überhaupt spielt das Ensemble vor der Kamera super. Neben den beiden Hauptdarstellern glänzen vor allem Rainer Bock als gewissenloser und heimtückischer Offizier und Bjarne Mädel als desillusionierter Koch.

Dem Regisseur und Oscar-Preisträger Florian Gallenberger (47, "Colonia Dignidad - Es gibt kein Zurück") ist - gemeinsam mit Drehbuchautor Bernd Lange ("Das Verschwinden") - eine atmosphärisch dichte Verfilmung mit teils deftiger Sprache gelungen.

Der zweite Teil (im Nachkriegssozialismus) findet sich so im Buch nicht wieder. Der Film bietet allerdings eine kluge Umsetzung der Vorlage, denn er vermag es, innere Zerrissenheiten und intuitive Entscheidungen der Figuren deutlich zu machen und die Themen Liebe, Rache und Vergebung - die im Roman teilweise nur in Fragmenten vorkommen - stärker zu beleuchten. Die atmosphärischen Schilderungen der Natur im Buch werden hier in starke Bilder umgesetzt.

"Der Überläufer" ist eine Produktion im Auftrag von NDR, ARD Degeto und SWR. Auch die Lenz-Stoffe "Der Mann im Strom", "Das Feuerschiff", "Die Auflehnung" und "Arnes Nachlass" wurden für den NDR verfilmt. Damals mit dabei: der jüngst verstorbene Jan Fedder.

Siegfried Lenz, der selbst aus Masuren stammt und in den letzten Kriegstagen in Dänemark desertiert war, schrieb "Der Überläufer" im Alter von 25 Jahren. Das insgesamt zweite Werk des Autors wurde jedoch erst 2016, zwei Jahre nach seinem Tod, veröffentlicht (erschienen im Atlantik-Verlag).

Aufgrund zensierender Eingriffe seines mutlosen Lektors hatte Lenz den Roman zurückgezogen und in einer Schreibtischschublade verschwinden lassen. Buch und Verfilmung können nun als Glücksfall für Leser und Zuschauer betrachtet werden.