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Der verlorene Bruder

Max ist ein Einzelkind, aber vielleicht lebt sein am Kriegsende verschollener Bruder doch noch. Sensibles TV-Drama mit starken Darstellern, das ein Schlaglicht auf die Vergangenheitsverdrängung Anfang der 1960er Jahre in Westdeutschland wirft.

Von Johannes von der Gathen, dpa 08.12.2015, 23:01

Berlin (dpa) - Sommer 1960, Versmold in Westfalen. Das deutsche Wirtschaftswunder kommt langsam in Gang, aber die Wunden der Vergangenheit sind noch lange nicht ausgeheilt. Der junge Max Blaschke (Noah Kraus) fühlt sich vernachlässigt, weil sich Zuhause alles um seinen älteren, vermissten Bruder dreht, der 1945 bei der Flucht vor den Russen als Baby in die Obhut Fremder kam und seitdem als verschollen gilt.

Max sieht die ganze Sache im Gegensatz zu seiner Mutter Elisabeth (Katharina Lorenz) und seinem Vater Ludwig (Charly Hübner) eher pragmatisch. Solange der ältere Bruder nicht auftaucht, hat er sein Zimmer für sich allein. Das stark besetzte Nachkriegsdrama Der verlorene Bruder läuft an diesem Mittwoch (20.15 Uhr) in der ARD.

Regisseur Matti Geschonneck (Boxhagener Platz) erzählt seine Geschichte, die auf dem autobiografisch gefärbten Roman Der Verlorene des Autors Hans-Ulrich Treichel (Jahrgang 1952) basiert, konsequent und einfühlsam aus der Perspektive des halbwüchsigen Protagonisten Max. Der schmächtige Junge hat es schwer in der Schule, wird von den Mädchen ausgelacht, ist hoffnungslos in die hübsche Nachbarstochter verliebt und wird von den älteren Jungs verprügelt. Da flieht er dann in seine Tagträume und hat eine Heidenangst, dass der vermisste Bruder gefunden wird. Wie kann man überhaupt sein Kind verlieren?, fragt er seine Eltern, die sich mit der Antwort sichtlich schwertun. Was ist eigentlich passiert auf der Flucht vor den Russen? Welches Geheimnis verbergen Ludwig und Elisabeth?

Die Eltern schöpfen neue Hoffnung, als die Identität von Findelkind 2307 geklärt werden soll. Max' Mutter ist fest davon überzeugt, dass es sich um ihr Kind handelt. Sein Vater, der sich ein kleines Lebensmittelgeschäft aufgebaut hat und expandieren will, reagiert eher zögerlich und ausweichend. Trost findet die Mutter beim einfühlsamen Polizisten Frank Rudolf (Matthias Matschke), der immer ein offenes Ohr für ihre Nöte hat. Eine zarte Liaison bahnt sich an.

Sehr genau entwirft der Film (Drehbuch: Ruth Toma) ein Sittenbild der frühen 1960er Jahre in Westdeutschland. Die Leute können sich wieder etwas leisten, der erste Fernseher, das erste Auto, der Wohlstand wächst. Aber einer wie Max' Vater Ludwig ist so mit dem Wiederaufbau beschäftigt, dass er die Vergangenheit komplett verdrängt hat. Nur die autoritären Strukturen der Nazi-Zeit scheinen weiter zu bestehen. Ludwig piesackt seinen Sohn bei fast jeder Gelegenheit, Swing- und Jazz-Musik, die der Junge am Röhrenradio hört, sind nach wie vor verpönt: Das ist doch keine Musik, ätzen die Erwachsenen. Da dreht der widerborstige Max das Radio erst recht laut auf.

Das manchmal etwas statische Drama um den verlorenen Bruder kann mit starken Darstellern punkten. Charly Hübner (Bornholmer Straße) überzeugt als wortkarger Familienvater, der sich ganz dem Wiederaufbau verschrieben hat. Im Gegensatz dazu spielt Katharina Lorenz (Das Ende einer Nacht) glaubwürdig die tiefverletzte Mutter, die sich erst spät von den Traumata des Verlusts freimachen kann.

In einer ungewohnt seriösen Rolle gibt Matthias Matschke, der einem breiten Publikum vor allem aus den Comedyserien Pastewka und Ladykracher bekannt sein dürfte, den sensiblen Frauenversteher mit überkorrektem Seitenscheitel, der alles dafür tut, um die Suche nach dem Findelkind zum Erfolg zu führen. Und natürlich muss man den Kinderdarsteller Noah Kraus dafür loben, dass er uns die fragile Gefühlswelt eines Jugendlichen im spießigen Wirtschaftswunderland eindringlich vor Augen führt. Ein wenig gärt in dem Jungen schon die Rebellion, die dann 1968 die Jugend auf die Barrikaden getrieben hat.

Der verlorene Bruder