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TV-Tipp Wiener "Tatort" aus dem Obdachlosen-Milieu

Sucht, Scheidung, eigene Fehler: Es gibt viele Gründe für den sozialen Absturz bis auf die Straße. Im Wiener "Tatort" sind die Menschen in der Obdachlosen-Szene besondere Opfer.

Von Matthias Röder, dpa 19.12.2020, 23:01
Philipp Brozsek
Philipp Brozsek ARD Degeto/ORF/Superfilm

Wien (dpa) - So sprachlos ist Bibi Fellner selten. Doch beim Anblick der Leiche von Gregor Aigner (Jonathan Fetka) ist die von Adele Neuhauser gespielte Wiener "Tatort"-Kommissarin sichtbar geschockt. Sie kennt den Mann. Mehr noch: Er hat vor ein paar Tagen versucht, sie in einer dringenden Angelegenheit zu sprechen. Aber sie hat dem Ex-Polizeispitzel und selbst ernannten Investigativjournalisten, der ins Obdachlosenmilieu abgestürzt ist, weder Zeit noch Ohr geschenkt.

Oberst Ernst Rauter (Hubert Kramar) gibt Fellner und ihrem Kollegen Moritz Eisner (Harald Krassnitzer) noch den guten Tipp: "Ihr könnt bei dem 08/15-Fall mit den Überstunden ruhig ein bisschen sparsamer sein." Ein tödlicher Streit unter völlig gescheiterten Existenzen, was sonst soll dahinter stecken?

In der "Tatort"-Folge "Unten" am 20. Dezember um 20.15 Uhr im Ersten fristen viele Darsteller ein Leben am Minimum - und drehen teils ihre krummen Dinger. Tina (Maya Unger) und Indy (Michael Steinocher) halten sich mit Drogengeschäften über Wasser. Micha Schmidt (Klaus Huhle) entführt Hunde und freut sich über das Lösegeld. Die völlig zerzauste Sackerl-Grete (Inge Maux) ist von den Freuden des Lebens so entwöhnt, dass schon ein von Fellner und Eisner spendierter warmer Kakao sie zu einem glücklichen Menschen macht. Die mittellose junge Mutter Johanna Wallner (Sabrina Reiter) und ihr Sohn Tobi (Finn Reiter) landen in der Notschlafstelle. Das Obdachlosenheim ist aber nicht die erhoffte Zufluchtsstätte, wie sich im Lauf des Krimis, der nach bedächtigem Start zunehmend in den Bann zieht, herausstellt.

Das Geheimnis von Aigner ist der Dreh- und Angelpunkt der Geschichte. War der Journalist tatsächlich einem großen Verbrechen auf der Spur? Seinem Ruf hat er mit einem Blog, der gern Themen aus der Verschwörungs-Szene aufgreift und weiterspinnt, nicht unbedingt geholfen. Hat das Trauma seiner Entlassung im Moment seines größten Scoops - der Aufdeckung eines Bankenskandals - einen verwirrten Geist hinterlassen? "Das hat er nicht verkraftet", findet jedenfalls seine Ex-Frau. Die Ahnung, dass sich hinter dem Mord an Aigner andere Motive verbergen als ein bloßer Streit wird genährt, als die Krankenakten von 20 vermissten Obdachlosen auftauchen.

Der Leiter des Obdachlosenheims, Frank Zanger (Michael Pink), ist mit seiner demonstrativen sozialen Ader und seinem geschliffenen Auftreten entweder die Idealbesetzung oder ein Blender. Zu den schwer durchschaubaren Figuren zählt auch die einstige Top-Ärztin Steiner-Reeves (Jutta Fastian). Die hatte es bei einer Gesichts-Operation gewagt, der entstellten Patientin zur Wiederherstellung der Gesichtszüge Gewebe aus dem Schambereich zu verpflanzen. Ein Arbeitsverbot war die Folge. Bei der Begegnung mit den Wiener Ermittlern ist sie aber wieder ganz obenauf und erfolgreich. Auch da lohnt sich im Drehbuch von Thomas Christian Eichtinger und Samuel R. Schultschik für die Kommissare ein zweiter Blick.

Im Gegensatz zu anderen Neuhauser-Krassnitzer-Folgen verirren sich die beiden unter der Regie von Daniel Prochaska dieses Mal nicht auf persönliche Nebenschauplätze - sie arbeiten effektiv und reibungslos zusammen. Und sie wollen den eigenen Polizeibehörden - der Exekutive, wie der Österreicher sagt - zeigen, dass Ermittler-Ehrgeiz auch bei den Ärmsten Pflicht ist.

© dpa-infocom, dpa:201215-99-697139/3

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