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GrenzenLos Wolfgang Stumph dokumentiert Ost-West-Fluchtgeschichte

Tausende DDR-Flüchtlinge sind 1989 in Zügen von Prag oder Budapest in den Westen ausgereist. Pressefotos zeigen lachende und aus den Fenstern winkende Menschen - Wolfgang Stumph hat einige von ihnen besucht.

28.09.2019, 19:56

Leipzig (dpa) - "Das ist mein erster Brief aus der Freiheit ... ich bin dabei, den Weg meines Lebens zu beschreiten." Die Stimme von Katrin Riemey ist belegt, als sie diese Zeilen vom Oktober 1989 vorliest.

Der Dresdner Schauspieler und Kabarettist Wolfgang Stumph hat ein Foto in der Hand, als er sie in Quedlinburg (Sachsen-Anhalt) besucht. Es zeigt die damals 19-Jährige, die über Prag in den Westen floh, kurz nach der Wende mit weit ausgebreiteten Armen vor dem offenen Zaun am Brocken. Der 73-Jährige hat sie und sechs andere DDR-Flüchtlinge aufgespürt. In seinem Dokumentarfilm "GrenzenLos" (Regie: Jana von Rautenberg), der am Sonntag um 20.15 Uhr im MDR gezeigt wird, erzählen sie ihre Geschichten.

Riemey hatte die DDR am 4. Oktober 1989 mit dem letzten von acht Zügen aus der Prager Botschaft in Richtung Hof (Bayern) verlassen. Nach Ausbildung und Pharmazie-Studium im Westen zog es sie 1998 zurück in ihre Heimatstadt. "Die wunderbare Natur", sagt die passionierte Wanderin auf Stumphs Frage nach den Gründen. Auf das Foto von der Brockenwanderung hat sie "Frei" geschrieben, mit dickem Ausrufezeichen. "Das ist eins meiner schönsten Gefühle", sagt die 49-Jährige.

Stumph ist 3000 Kilometer durch Deutschland gefahren und hat auch Menschen getroffen, die den DDR-Bürgern auf westdeutscher Seite halfen. Interessiert haben ihn die Geschichten hinter den Bildern. Da sind das strahlende Mädchen mit blonden Locken und pinkfarbenen Creolen in den Ohren und ein Teenager mit Vokuhila-Frisur, die Finger zum Victory-Zeichen geformt, die aus Zugfenstern winken, oder eine junge Frau, inmitten anderer Feiernder auf der Berliner Mauer.

Steffi Seifert animierte damals im Urlaub am Plattensee in Ungarn der Bericht über das Paneuropäische Picknick, die Friedensdemo an der Grenze zu Österreich im August 1989: "Da hab' ich gedacht, das kannste och", sächselt die gebürtige Vogtländerin. Mit dem Trabi und ihrer siebenjährigen Tochter Kati wartet sie Tage später vor dem Garten der Budapester Botschaft auf die Ausreise. Ein Reporter fotografiert die Beiden, und ein TV-Team aus dem Westen wird zum Fluchthelfer. Als Stumph ihnen den Bericht von damals zeigt, kommen Mutter und Tochter in Ottobrunn (Bayern) die Tränen.

Im ehemaligen Zonenrandgebiet in Hessen trifft Stumph auf ein Freunde-Trio: die Ex-Sebnitzer Thomas Haase und Dirk Breuer und Jörg Leister, Thomas' West-Urlaubsbekanntschaft. Die damals 23 und 17 Jahre alten Sachsen wurden bei der Ankunft des Zuges von Prag nach Hof am 1. Oktober 1989 fotografiert, jubelnd. Bei der gemeinsamen Brotzeit erzählen sie Stumph von ihrer Freundschaft. Die Rückkehr in die Heimat ist für Haase kein Thema mehr. "Dort sind lauter Fremde, die man nicht mehr kennt."

In "GrenzenLos" erinnern sich auch Menschen an 1989, die mit dem Technischen Hilfswerk Brücken über kleine Flüsse im Niemandsland bauten, als Polizisten am Bahnhof Hof Dienst taten, halfen, das Begrüßungsgeld auszuzahlen oder die Regale im Supermarkt auffüllten, wo das begehrte Westgeld sofort investiert wurde. Mit den Ex-Flüchtlingen stellt Stumph die Fotos nach, die ihn zur Spurensuche animierten. Die Frauen hätten offener über sich erzählt, ihre Chancen genutzt, resümiert Stumph. "Ost-Frauen sind starke Frauen."

Solche wie Bianca Herrmann, die als 14-Jährige mit ihrer Mutter aus Olbernhau (Erzgebirge) im Zug nach Hof fuhr. Der Sturz aus der plötzlich abgebrochenen behüteten DDR-Kindheit war ein Problem, sagt sie. Trotz privater Schicksalsschläge ist sie in Solingen (Nordrhein-Westfalen) geblieben, wo sie als "Zahnfee" Kita-Kindern das richtige Zähneputzen lehrt. Auch die 20-Jährige, die mit Wunderkerze am 9. November 1989 auf der Mauer am Brandenburger Tor deren Fall feiert, hat Stumph gefunden.

Das Treffen mit der aus Leipzig stammenden Maskenbildnerin Lydia Geißler und ihrer Familie in Passau (Bayern) offenbart ein wahres Drama: Die Flucht mit den Eltern, dem fünfjährigen Bruder und der siebenjährigen Schwester im Herbst 1989 endete für die Vierjährige fast im Niemandsland - sie fiel aus dem Zug in die Freiheit.

"GrenzenLos" ist ein Film über Sehnsüchte und Träume, Ehrgeiz und Erfolg, Mitmenschlichkeit und Heimweh - und für Stumph ein gesamtdeutsches Zeugnis der jüngeren Vergangenheit. "Bei meinen Begegnungen habe ich gespürt, wir kommen gut voran, wenn wir nach vorn sehen, aber dabei nicht vergessen, in den Rückspiegel zu schauen."

MDR-Vorschau zum Film