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Lotsen im Dschungel Alltagshilfe für pflegende Angehörige

Pflege ist Knochenarbeit - und gerade für pflegende Angehörige eine psychische Belastung. Im schlimmsten Fall können sie sogar selbst zum Pflegefall werden. Damit das nicht passiert, braucht es Unterstützung, sagen Experten. Und zwar anders als bisher.

Von Tobias Hanraths, dpa 22.01.2019, 13:23

Köln (dpa/tmn) - Die Tochter, der Ehemann, die Enkel: Ohne engagierte Angehörige wäre Pflege in Deutschland kaum vorstellbar. Allerdings bedeutet Angehörigenpflege viel Arbeit und Stress. Um das abzufedern, gibt es zwar Hilfsangebote.

Oft kommen die aber nicht im Alltag der Betroffenen an, sagt Sigrid Leitner. Sie ist Professorin an der Fakultät für Angewandte Sozialwissenschaften der Technischen Hochschule Köln. Mit Kolleginnen der Universität Duisburg-Essen und der Fachhochschule Bielefeld hat sie untersucht, wie pflegende Angehörige ihren Alltag meistern. Ein Gespräch über familiäre Unterstützung, Arbeit als Entlastung und Pflege als Lebensaufgabe.

Was ist die größte Herausforderung im Alltag pflegender Angehöriger?

Sigrid Leitner: Das hängt ein bisschen davon ab, in welcher Phase der Pflege sich jemand befindet. Aber gerade zu Beginn gibt es natürlich ein großes Wissensdefizit und entsprechend großen Bedarf an Informationen - zu Unterstützungsleistungen, rund um die ganze Pflegebürokratie. Und auch später gibt es das immer mal wieder, wenn sich an der Situation etwas ändert.

Es gibt für pflegende Angehörige ja verschiedene Informations- und Hilfsangebote. Reichen die nicht aus?

Leitner: Es stimmt, dass es in Deutschland schon zahlreiche Unterstützungsleistungen gibt. Es gibt aber schon noch Defizite, bei kultursensiblen Pflegediensten für türkischstämmige Menschen etwa oder bei der Versorgung im ländlichen Raum. Viele Dienste sind auch überlastet und können nicht flexibel auf Wünsche der Angehörigen eingehen. Und die ganze Unterstützung ist in Deutschland eine Komm-Struktur - Angehörige müssen sich die Angebote selbst suchen. Gleichzeitig ist das System aber unübersichtlich und intransparent - da fehlt es an Lotsen, die einen Weg durch diesen Dschungel zeigen und für eine passgenaue Versorgung sorgen.

Wozu führen diese Mängel?

Leitner: Zum einen zu Stress und Überforderung, weil sich die Angehörigen neben der eigentlichen Pflegearbeit auch noch selbst um Hilfsangebote kümmern müssen. Das nimmt ihnen keiner ab. Und zum anderen führt es dazu, dass die Angehörigen manche Dienste gar nicht in Anspruch nehmen und dann überlastet sind. Langfristig entstehen so schwerwiegende gesundheitliche Probleme, bis hin zum Burnout. Und im schlimmsten Fall werden die Angehörigen sogar selbst zum Pflegefall.

Trotzdem gibt es ja auch pflegende Angehörige, die den Alltag gut meistern. Woran liegt das?

Leitner: Das sind die Angehörigen, die es schaffen, Pflege als Teil ihres Lebensentwurfs zu akzeptieren. Entweder weil sie die Pflege als begrenzte Phase begreifen, als Aufgabe für einen festgelegten Zeitraum. Oft sind das Frauen, aber nicht nur: Männer, die eher früh in den Ruhestand gehen, haben dann mit der Pflege plötzlich wieder einen Job. Oder weil es im Leben noch etwas anderes als die Pflege gibt, weil man zum Beispiel weiter erwerbstätig ist.

Was sind die Voraussetzungen dafür, dass das klappt?

Leitner: Es gibt zwei Varianten: Entweder man hat die finanziellen Möglichkeiten, um sich Unterstützung quasi dazuzukaufen. Oder es gibt ein breites familiäres Netzwerk, in dem sich die Pflege aufteilen lässt.

Was ist mit Angehörigen, denen diese Akzeptanz von Pflege nicht gelingt?

Leitner: Die erleben die Pflege als eine Art Sackgasse - als eine aufgedrückte Pflicht, die sie übernehmen müssen. Ganz häufig gibt es da hohe emotionale Abhängigkeiten und gleichzeitig enge finanzielle Grenzen - die Angehörigen können sich aus der Situation nicht befreien, so erleben die das. Die Belastung der Pflege wirkt für solche Angehörigen doppelt schwer, und damit steigt dann natürlich auch das Risiko gesundheitlicher Probleme.

Was können diese Angehörigen selbst tun, um sich zu schützen?

Leitner: Das ist ganz schwierig. Man kann sich natürlich Entlastung suchen - durch Erwerbsarbeit, im sozialen Umfeld oder in der Familie. Je nach Konstellation kann sich das aber auch umdrehen: Wenn der Arbeitgeber zum Beispiel unflexibel ist, bedeutet die Arbeit eher zusätzlichen Stress und keine Entlastung. Und Familien können unterstützen. Es kann aber auch passieren, dass da Druck auf die Pflegenden aufgebaut wird.

Besser wären also Hilfsangebote?

Leitner: Ja, und vor allem die Abkehr von der Komm-Struktur. Denn gerade die Angehörigen, die Pflege als Sackgasse erleben, gehen nicht zu den Beratungsstellen. Wenn es da eine Art Case Manager gäbe, der von sich aus bei den Angehörigen vorbeischaut und sich kümmert, wäre das sicher eine große Hilfe. Das ist natürlich eine Kostenfrage, aber in Holland zum Beispiel gibt es das schon - in Deutschland fehlen solche Strukturen noch.