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Drama "Der verlorene Sohn": Therapie gegen das Schwulsein

Der Regisseur Joel Edgerton inszeniert das wahre Schicksal des zwangstherapierten Homosexuellen Gerrard Conley. In der Hauptrolle brilliert einmal mehr der Newcomer Lucas Hedges.

Von Antje Wessels, dpa 18.02.2019, 09:43
Jared (Lucas Hedges, l) wird wegen seiner homosexuellen Neigungen zu einer religiösen Reparativtherapie verdonnert. Foto: Kyle Kaplan/Universal Pictures Germany
Jared (Lucas Hedges, l) wird wegen seiner homosexuellen Neigungen zu einer religiösen Reparativtherapie verdonnert. Foto: Kyle Kaplan/Universal Pictures Germany Universal Pictures Germany

Hamburg (dpa) – In einigen Gegenden der USA ist die sogenannte Reparativtherapie bis heute weit verbreitet. Mit ihren Methoden versprechen selbst ernannte Heiler Homosexuellen die Hoffnung darauf, ihre vermeintlich aus einer Sünde heraus entstandenen Neigungen in den Griff zu bekommen.

In den meisten Fällen sind es allerdings gar nicht die Betroffenen selbst, die meinen, auf diesem Wege von einer Last befreit zu werden, sondern die Eltern.

Genau solche Eltern, für die eine Homosexualität ihres Sohnes eine furchtbare Vorstellung darstellte, waren auch die des Teenagers Garrard Conley, der über seine Erfahrungen ein Buch schrieb. In "Boy Erased" schildert er die wenigen Tage seines Aufenthalts in einer therapeutischen Einrichtung für Schwule und Lesben. Joel Edgerton, dessen Regiedebüt "The Gift" bereits begeisterte, hat daraus jetzt einen Film gemacht.

Teenager Jared Eamons (Lucas Hedges) ist wohlbehütet in der Obhut seiner Eltern Nancy (Nicole Kidman) und Marshall (Russell Crowe) aufgewachsen. Doch je älter er wird, desto mehr fühlt er sich sexuell zu Männern hingezogen – und das ist für seine Familie ein Problem. Denn als Baptistenprediger ist es für Marshall unmöglich, die Neigungen seines Sohnes zu akzeptieren. Über den Kopf seiner aufgeschlosseneren Ehefrau hinweg verdonnert er den Jungen zu einer religiösen Reparativtherapie. Hier sollen homosexuelle Teenager mit äußerst streitbaren Methoden umerzogen werden.

Im Therapiezentrum angekommen nimmt ihn der selbst ernannte Therapeut Victor Sykes (Joel Edgerton) sofort unter seine Fittiche. Fortan muss Jared lernen, seine Gelüste als krankhafte Schwäche anzusehen, die er zu bekämpfen hat. Doch anders als seine Mitpatienten beginnt Jared zu rebellieren - auch wenn die Flucht von diesem finsteren Ort weitaus schwerer ist als erwartet.

Der erste Eindruck von "Der verlorene Sohn" ist trügerisch: Ganz so schlimm wie anhand der Inhaltsbeschreibung befürchtet, werden die zwei Stunden dann doch nicht. Tatsächlich verzichtet der auch für das Drehbuch verantwortliche Joel Edgerton bewusst auf Extreme. Sein Protagonist hat ja ohnehin nur wenige Tage in einer Einrichtung verbracht, in der es andere oftmals mehrere Monate oder sogar Jahre aushalten müssen. Außerdem hat er die besonders radikalen Ausprägungen nur am Rande mitbekommen, wurde also nie selbst das Opfer von Elektroschocks oder dem Beiwohnen der eigenen Beerdigung – eine Methode, die Edgerton hier anhand eines Mitinsassen aufgreift.

Kurzum: Das direkt greifbare Leid fühlt sich aus der Sicht des jederzeit rational denkenden Jared nicht zu schlimm an wie aus der eines vollkommen hilflosen Opfers. Immer wieder hinterfragt der von "Manchester by the Sea"-Star Lucas Hedges aufopferungsvoll verkörperte Jared die Methoden, äußert sich kritisch gegenüber Betreuern und seinen Eltern. Andere haben nicht so viel Glück und unterziehen sich einer langsamen Gehirnwäsche. Darin, zu sehen, wie diese Methoden funktionieren und die Homosexuellen ihre Neigungen selbst immer abstoßender finden, steckt die eigentliche Brutalität des Films.

Auch eine Vergewaltigungsszene in der ersten Hälfte des Films geht ordentlich an die Nieren, spielt für den weiteren Verlauf der Story allerdings nur eine marginale Rolle. Es ist der einzige Moment in "Der verlorene Sohn", in dem man den Eindruck gewinnt, Edgerton wolle eben doch auch mal mit einer gewissen Drastik aufrütteln. Sie wirkt dadurch fast ein wenig deplatziert innerhalb dieses sich ganz auf seine reale Vorlage besinnenden Films, in dem ansonsten ohne Überzeichnung gearbeitet wird.

Noch nicht einmal die Betreuer vor Ort lassen sich automatisch in die Rolle der klassischen Schurken drängen; dafür tragen sie ihr Anliegen mit einer solchen Ernsthaftigkeit vor, dass man sofort erkennt, weshalb Jahr für Jahr so viele US-Amerikaner auf diese Methoden setzen. Genau das macht "Der verlorene Sohn" so schockierend: Edgerton liefert einen Einblick, der regelrecht dokumentarisch ist. Da kann einem fast schlecht werden.

Der verlorene Sohn, USA/Australien 2018, 115 Min., FSK ab 12, Lucas Hedges, Russell Crowe, Nicole Kidman

Der verlorene Sohn