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Intensiv Deutschlands Oscarhoffnung: "Systemsprenger"

"Systemsprenger" soll im nächsten Jahr den Oscar für den besten nicht-englischsprachigen Film nach Deutschland holen. Für ihr Debüt gewann die Regisseurin schon einige Preise. Nun kommt das Drama um ein schwer erziehbares Mädchen in die Kinos.

Von Aliki Nassoufis, dpa 13.09.2019, 15:46

Berlin (dpa) - Die neunjährige Benni ist wütend. Extrem wütend. Sie schreit und tobt, ihr Kopf ist rot vor Anstrengung. Doch sie hört nicht auf, sondern schmeißt schließlich noch ein großes Spielzeugauto gegen die Eingangstür. "Keine Sorge, das ist Sicherheitsglas", beruhigt ein Pädagoge dahinter sich und andere. Aber Benni ist so in Rage, dass sie das Bobby Car voller Wucht durch die Luft wirft - und das Glas doch zerspringt.

Es sind Szenen wie diese, die einem noch länger in Erinnerung bleiben aus "Systemsprenger", dem bemerkenswerten Debütfilm von Nora Fingscheidt. Die 36-jährige Regisseurin erzählt darin von einem schwer erziehbaren Mädchen, das von seiner Mutter weggegeben wurde und von einer Pflegeeinrichtung zur nächsten gereicht wird. Damit gewann Fingscheidt bei der diesjährigen Berlinale nicht nur den Alfred-Bauer-Preis für einen Spielfilm, der neue Perspektiven eröffnet. Nach Florian Henckel von Donnersmarcks "Werk ohne Autor" im vergangenen Jahr ist "Systemsprenger" nun auch der aktuelle deutsche Kandidat für den Auslands-Oscar.

Ein absoluter Glücksfall ist dabei die junge Helena Zengel in der Hauptrolle. Bei den Dreharbeiten war die Schülerin aus Berlin gerade einmal neun Jahre alt - umso erstaunlicher, mit welcher Intensität sie die Rolle der Benni hier verkörpert: Sie schwankt zwischen dem Wunsch nach Nähe und extremster Aggressivität, sie sehnt sich nach Liebe und Geborgenheit, zerstört mit ihrer Unberechnbarkeit aber letztendlich jeden Annäherungsversuch. Man darf sie auch nicht im Gesicht berühren, sonst rastet Benni sofort aus. Eine Misshandlung im Säuglingsalter hat das Mädchen nachhaltig traumatisiert.

Regisseurin Fingscheidt beobachtet, wie die Neunjährige das System der Kinderbetreuung sprengt - daher auch der Name "Systemsprenger". Sie wurde schon von vielen Schulen verwiesen und lebte bereits in mehreren Heimen. Dabei hilft es auch nicht, dass die leibliche Mutter immer mal wieder in Bennis Leben auftaucht und ihr Hoffnung auf eine Rückkehr macht. "Ich habe Angst vor ihr", sagt die überforderte Mutter, die auch noch zwei andere Kinder hat.

Beim Zuschauen leidet man mit Benni mit und ist angesichts ihrer explosiven Gewalt dann doch fassungslos. Die einzige Chance scheint der Anti-Gewalt-Trainer Michael (Albrecht Schuch) zu sein, der vorschlägt, Benni für drei Wochen in seine Waldhütte mitzunehmen. Kaum äußere Reize, nichts, was ihre Wut triggern könnte. Doch ist Benni wirklich noch zu helfen?

Fingscheidt erzählt auf sehr radikale Weise, was passiert, wenn das System in unserem Land an seine Grenzen kommt. Die im niedersächsischen Braunschweig geborene Regisseurin lotet dabei jede Möglichkeit aus und macht deutlich, warum etwa Benni, aber auch ihre Mutter so gefangen in ihrem Verhalten sind. Damit verlangt der Film seinem Publikum einiges ab. Das gilt für viele der Szenen, in denen Benni ausrastet, aber auch für die beklemmende Szene, in der sie mit Michael im Wald sitzt und ihr Echo hören will: "Mamaaaa!", schreit sie voller Verzweiflung und Sehnsucht.

Ob das Drama bei den Oscars wirklich eine Chance hat, ist unklar. Als nächstes muss es "Systemsprenger" auf die Shortlist mit den fünf finalen Werken in der Kategorie für den besten ausländischen Film schaffen. Doch selbst wenn das nicht klappen sollte: Einen größeren Erfolg hätte sich Nora Fingscheidt für ihr Spielfilmdebüt sicher nicht wünschen können. Und für Helena Zengel könnte die Rolle das Sprungbrett für eine internationale Karriere sein: Die Elfjährige spielt demnächst eine Hollywood-Hauptrolle im Western "News of the World" an der Seite von Tom Hanks.

Systemsprenger