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Zirkelarbeit Der blinde Lehrmeister

Am 7. September vor 60 Jahren hat Bildhauer Dario Malkowski seinen ersten Kinderzirkel im Modellieren geleitet.

Von Kathleen Radunsky-Neumann 07.09.2015, 01:01

Schönebeck l Kurz setzt Dario Malkowski seine Sonnenbrille ab. Mit den Fingern zeigt er, wie groß der Abstand zwischen Ohr und Auge ist. Das hilft beim Finden der richtigen Proportionen. Dabei sieht ihm Annegret Beyme ganz genau zu. Sie saugt jedes Wort auf. Dann will sie das Gesehene umsetzen an ihrer Plastik, einer Art Übertopf in Kopfform. Doch auf Anhieb will es nicht klappen. Dario Malkowski legt mit Hand an. Besser gesagt, er führt ihre Hände. Dass sie seine Hilfe gern annimmt, ist selbstverständlich. Dass er nicht sehen kann, ist wiederum außergewöhnlich. Dario Malkowski verlor durch eine Granate im Zweiten Weltkrieg sein Augenlicht.

Heute ist der Schönebecker 89 Jahre alt. Auch wenn ihm, wie er selbst sagt, oft Steine in den Weg gelegt wurden, so hat er Beachtliches erreicht. Vor dem Krieg war er als technischer Werksstudent im Junkerswerk Schönebeck tätig. Als blinder Kriegsrückkehrer sollte er sich nun zum Masseur oder Korbflechter umschulen lassen. Das kam für ihn nicht infrage. Stattdessen probierte er sich am Schnitzen. Und Anfang der 1950er Jahre studierte er in Magdeburg an der Fachschule für angewandte Kunst und der gleichnamigen Leipziger Schule.

„Ich bin der einzige blinde studierte Bildhauer in Deutschland“, sagt er. Inzwischen hat er hunderte Plastiken geschaffen. Sie sind nicht nur in Deutschland zu sehen, auch in Paris oder Petersburg finden sich die „echten“ Malkowskis. 2004 wurde ihm das Bundesverdienstkreuz am Bande verliehen. Er ist Ehrenbürger und zudem Träger des Rathauspreises der Stadt Schönebeck.

Für den sympathischen und bescheidenen Mann war und ist es nicht nur wichtig, seine eigene Kunst zu schaffen. Bereits früh begann er, sein Wissen und – sofern es geht – sein Talent weiterzugeben. „Von der Volksbildung aus wollte man damals einen Modellierzirkel aufbauen“, erinnert sich Dario Malkowski. Malzirkel und ähnliches habe es bereits gegeben. „Eines Tages kamen sie zu mir und sagten, dass sie es schon mit zwei Leuten probiert hatten, die Kinder aber nicht bei der Stange blieben“, berichtet er weiter. Gesagt, getan.

Los ging es am ersten Mittwoch im September 1955 – ein Kurs mit Kindern zwischen 11 und 18 Jahren. „Es dauerte nicht lange, da kamen so viele Anmeldungen, dass wir eine zweite Gruppe aufmachten“, sagt er. Kurze Zeit später erhielten seine Schützlinge den Titel „DDR-beste Gruppe Kinder“. Bei der Preisverleihung „hat keiner gewusst, dass ich als Lehrer nicht sehen kann“, sagt er.

Später kam auch die Weiterbildung von Kunsterziehern, Kindergärtnern, Arbeitstherapeuten im Gesundheitswesen sowie der sogenannten Volkskünstler hinzu. Letzteres sei für den Bildhauer eine Herausforderung gewesen, „denn sie waren ja keine Anfänger mehr“.

Zehn Jahre nach Beginn seiner Lehrtätigkeit eröffnete Dario Malkowski noch Zirkel für Erwachsene. „Das hat sich gut etabliert“, schlussfolgert er. So gut, dass seine Zirkel sogar die politische Wende 1990 überlebt haben. Nicht selbstverständlich, weiß der 89-Jährige. Aber was ist auch selbstverständlich bei diesem Ausnahmekünstler?

„Da ich frei in meinem Handeln sein wollte, habe ich mich gegen die Volkshochschule entschieden“, sagt er. Also ist der Künstler doch etwas stur? Er relativiert mit einem Lächeln: „Ich weiß, was ich will.“ Stattdessen gründete Malkowski mit seinen treuen Schülern die „Interessengemeinschaft Keramik“. Unterstützt wird die Gruppe durch die Stadt, die die Zirkelräume bis dato kostenfrei zur Verfügung stellt.

Zweimal in der Woche unterrichtet Malkowski noch wissbegierige Nachwuchskünstler. Manch Teilnehmer ist mehr als 40 Jahre dabei. So zum Beispiel Gisela Schwenke. Seit 1975 lernt sie bei Dario Malkowski. „Ohne ihn geht es nicht“, sagt sie frei heraus und bleibt ihm treu. Seit 32 Jahren will auch Barbara Ludwig ihren Mentor nicht mehr missen. Sie gibt zu, dass die Kritik des Künstlers manchmal auch weh tue, „aber wir vergeben ihm immer wieder gern“, sagt sie mit einem nachsichtigen Lächeln und widmet sich ihrer Aufbaukeramik.

Und Dario Malkowski blickt heute auf 60 Jahre als Lehrmeister zurück. Während der Otto-Normal-Verbraucher nach 45 Jahren in den Ruhestand geht, merkt Dario Malkowski nur kurz an: „Wissen Sie, was ich nach 45 Jahren noch für schöne Arbeiten geschaffen habe?“