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Theater Jede Verlogenheit entlarvt

Der Dramatiker Lukas Bärfuss erzählt in „Die sexuellen Neurosen unserer Eltern“ von der Eingliederung geistig behinderter Menschen.

Von Gisela Begrich 11.10.2015, 23:01

Magdeburg l Das Spiel beginnt damit, dass die Eltern mit einem Arzt verabreden, alle Medikamente, die ein Mädchen namens Dora bisher vom Leben abgeschirmt hatten, abzusetzen und die Jugendliche pur mit dem Dasein zu konfrontieren. Schlicht und ohne moralischen Zeigefinger, ja, und bei aller Ernsthaftigkeit mit viel Humor stellen Autor und Regie dar, was nun geschieht und was Besucher ganz unterschiedlich erleben mögen, denn der Abend ist interpretatorisch nach vielen Seiten durchaus offen.

Das Verhalten des Mädchens, das in keinerlei Wertekanon eingebunden agiert, enthüllt einerseits Problemlagen tradierter Lebensvorstellungen in einer wohl geordneten Gesellschaft, andererseits offenbart sich, wie notwendig Regeln für ein Miteinander sind.

Regisseur Kristo Šagor erzählt schnörkellos, setzt oft auf Bilder statt auf eine realistische Ausdeutung der Szenen. Der Abend auf der Studiobühne gehört vor allem den Schauspielern, die allesamt ihre Figuren konzentriert bedienen, auch wenn sie nur wartend umhersitzen, aber meist beobachten und belauschen sie die Dora.

Sie befinden sich während der 95 Minuten ohne Pause beständig auf einer Spielfläche, welche zwei Drittel des Raumes einnimmt und von Christl Wein-Engel (auch Kostüme) so minimalistisch wie treffend ausgestattet ist.

Jenny Langner als Dora bildet das künstlerische Zentrum der Aufführung und liefert eine äußerst beeindruckende schauspielerische Leistung ab. Sie verschafft der Rolle eine Naivität, die aus einer unverstellten Innerlichkeit hervorgeht, und gibt ihrer Dora eine verblüffende Lebenssicht, die jede Form von Verlogenheit entlarvt. Die Langner wirkt in jeder Minute hellwach und genau in Gestik und Mimik, selbst wenn sie bloß zuhört, und sie bleibt beherrscht bis ins Detail, wenn sie offensiv ihre Gefühle äußert.

Schauspielerisch ebenbürtig präsentiert sich Ralph Opferkuch als Arzt. Jeder seiner Auftritte bringt das Geschehen genau auf den Punkt. Zum äußerst vergnüglichen Solo gerät die Rede, die Dora über Sexualität belehren soll. Sie wird zu einem regelrechten Highlight der Aufführung.

Oliver Chomik verkörpert den feinen Herrn, der ein entscheidendes Moment im Leben der Dora bildet, der ihre Sexualität und Lebenslust entfacht und wesentlich zur Zerstörung der jungen Frau beiträgt. Chomik gestaltet diesen lüsternen Tunichtgut, der das Mädchen anfangs dreckig benutzt, sauber abgestuft von einem Betrüger hin zu einem, der sich von seiner Schwindelei betroffen aus der Misere windet.

Wesentlich für Doras Geschick ist ihre Mutter, gespielt von Iris Albrecht. Der Schauspielerin gelingt glaubhaft, Fürsorge, Hilflosigkeit und Rigorosität der Figur in der Balance zu halten.

Weiter gehören zum Umfeld der Dora der Chef des Gemüseladens, dessen erotische Verklemmtheit Alexander von Säbel wohltuend dezent veranschaulicht, und dessen Mutter. Sie wird von Gisela Hess dargestellt, die eine selbstbewusste, aber verbitterte Frau zeigt.

Das optische und geistige Zentrum des Geschehens bildet ein runder Schleier, der in der Bühnenmitte von der Decke fällt, Sinnbild für den Vorhang, der alle Personen davon trennt, Dora zu begreifen. Nach dem letzten Dialog mit dem feinen Herrn fetzt Dora diese leichte Blockade, die im Bühnenkontext eine Mauer ist, aus der Verankerung und reißt sich selbst ins Elend. Tod? Der Schluss ist voller versäumter Möglichkeiten, von viel Trauer und Ausweglosigkeit.

Das stete Abgleiten in die Katastrophe untermalt eine wunderbare Musik wie aus einer anderen Welt (Felix Rösch). Schauspieler und Macher aber entlohnt Beifall für eine Inszenierung, der es nicht an Qualität und Stil mangelt.

Die nächsten Vorstellungen sind am 18. Oktober und 14. November.