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Literaturhaus Die Zeit ist reif

Denis Scheck und Eva Gritzmann lesen am 21. Januar im Literaturhaus Magdeburg aus ihrem Buch "Solons Vermächtnis".

19.01.2016, 23:01

Dr. Eva Gritzmann und Literaturkritiker Denis Scheck haben ein Buch vom richtigen Zeitpunkt im Leben geschrieben. Grit Warnat hat vor der Lesung im Literaturhaus Magdeburg mit den Autoren über das Altern, Jugendkult und reife Früchte gesprochen.

Sie beide sind vor kurzem 50 geworden. Hat das Alter so sehr genagt, dass Sie ein Buch über den richtigen Zeitpunkt im Leben schreiben wollten?

 

Wir haben uns am Anfang gefragt, warum es eigentlich so gut wie unmöglich ist, in Deutschland eine perfekt gereifte Birne oder eine Aprikose zu erwerben oder ein ordentlich abgehangenes Rindfleisch und weshalb statt dessen Küche und Keller immer mehr zum Schauplatz von Kindermorden werden: Kalb statt Rind, Lamm statt Schaf, Babygemüse überall. Diese Beobachtung hat uns dann zu dem Gedanken geführt, ob wir die Kategorie der Reife nicht nur beim Essen und Trinken, sondern auch in unseren Vorstellungen, was wann und wie in unserem Leben geschehen sollte, aus den Augen verloren haben.

Für den athenischen Dichter Solon, auf den Sie sich stützen, sind Sie beide mitten in der intellektuellen Reife. Solon sagt, die liege zwischen 43 und 56. Ist es richtig, wie Solon zwischen Körper und Geist zu unterscheiden?

Wir fanden Solons Ansicht zur psychischen Reife jedenfalls recht erfrischend angesichts des allgegenwärtigen Jugendwahns in Medien und Wirtschaft. Oder haben Sie schon mal eine Frau oder einen Mann getroffen, die ihre Vorfreude auf die Lebenszeit zwischen 40 und 60 zum Ausdruck brachten, weil man da halbwegs bei Verstand ist? Wir haben uns schon etwas ungläubig die Augen gerieben, als wir feststellten, dass unsere Fragen an unsere Gegenwart – Wann ist ein Mensch reif? Was sollte in einem erfüllten Leben alles Platz haben? Sind Jugend und Reinheit, Alter und Zynismus wirklich Synonyme? – bereits schon die ollen Griechen vor zweieinhalbtausend Jahren umgetrieben haben. Beim Übersetzen dieser Texte hatten wir großen Spaß. Bei dieser Arbeit stellt man nämlich ganz schnell fest, dass Jim Morrison und Amy Winehouse viele Vorläufer in der Antike hatten.

Sie thematisieren Jugendkult und schreiben über grassierenden Altersrassismus. Wie stark wollen Sie mit ihrem Buch provozieren?

Provozieren? Wir? Aber niemals nicht, Frau Warnat! Im Ernst: Wir waren eigentlich immer der Ansicht, dass ein gutes Buch den Blick in eine Richtung lenken sollte, in die man freiwillig niemals schauen würde – und sei es mit der einen oder anderen schallenden Ohrfeige. Ein paar solche Ohrfeigen sind sicher auch in „Solons Vermächtnis“ enthalten. Wir hoffen es jedenfalls.

Sie nehmen auf Ihren Streifzügen andere Menschen mit ins Boot wie Stephan Grünewald. Der Psychologe und Autor erzählt über das Reifen von Gesellschaften und dass wir heute in einer Phase der Überreife leben. Was meint er damit?

Wir wollten wissen, wie ein ausgewiesener Psychologe Reife von Individuen und Kollektiven versteht. Offen gestanden waren wir selbst nicht schlecht überrascht, dass Stephan Grünewald uns ein fix und fertiges Evolutionsmodell für das Reifen von Gesellschaften präsentierte, das sehr faszinierend ist. Grünewald sieht die deutsche Gesellschaft heute in einem Zustand, wo alles multioptional ist und wir uns schwer damit tun, einen Gemeinsinn und eine Richtung zu entwickeln.

Lassen wir mal dahingestellt, ob wir seine Diagnose teilen: Ganz sicher bietet die gegenwärtige Debatte um die nach Deutschland strömenden Flüchtlinge die Chance, so einen Gemeinsinn oder eine neue Richtung wieder zu finden. Mindestens ebenso sehr hat uns aber an Stephan Grünewald interessiert, wie ihn seine Tochter mit Down-Syndrom zu einem reiferen Menschen machte. Unser Buch fragt ja danach, was Menschen eigentlich dazu bringt, ihre einmal eingeschlagene Lebensbahn zu verändern und sich neu zu erfinden. Wie aus einem Kunstbuchverleger ein Schnapsbrenner wird. Aus zwei Journalisten die Betreiber eines Apfelguts. Oder aus einem Schnitzelfresser Deutschlands berühmtester Gastrokritiker.

Wie kommt man auf die Idee, Reife von Menschen mit der Reife von Lebensmitteln zu vergleichen?

Vergleichen darf man alles, nur alles gleichzusetzen ist keine so gute Idee. Und ein Vergleich von Reife-Konzepten ist gar nicht so frivol und fernliegend, wie man auf Anhieb vielleicht denkt. Wir sind tatsächlich von einem profunden Zusammenhang zwischen Kunst und Küche überzeugt: Beide erfordern gesteigerte Formen der Aufmerksamkeit auf Seiten von Produzenten wie Konsumenten. Und in beiden Bereichen ist es verheerend, auf die Propagandisten des Markes hereinzufallen.

Sie haben auch mit Martin Walser gesprochen. Er ist 88 und hat sein Buch „Der sterbende Mann“ gerade veröffentlicht. Warum gehört für Sie Walser mit ins Buch?

Weil Martin Walser ein dezidierter Feind der Reife ist und argumentiert: Jesus wurde auch nie erwachsen! Er ist sozusagen der Gegenpol zu Solon und stellt alles infrage, was wir und die Leser im Lauf des Buchs an liebgewordenen Gewissheiten angehäuft haben. Solche Leute braucht man dringend! Im Buch verrät er uns überdies, mit welchem Erwartungshorizont man mit Ende 80 zweimal die Woche Lotto spielt.

Haben Sie für sich persönlich herausgefunden, wann die richtige Lebenszeit ist?

Solons Vermächtnis besteht in der frohen Botschaft, dass jedes Lebensalter seine Reize hat, die unaufrechenbar mit anderen Lebenaltern sind. Wir kennen uns nun seit 35 Jahren und möchten um nichts in der Welt mit uns selbst in jüngeren oder älteren Jahren tauschen.

 

Eva Gritzmann und Denis Scheck lesen am 21. Januar, 19 Uhr, im Literaturhaus Magdeburg. Eintritt 15 Euro, Karten an der Abendkasse.