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Alte Schrift Die Übersetzer von Sütterlin

Vor 100 Jahren ist Ludwig Sütterlin gestorben. Seine Reformschrift wird in Halle noch übersetzt.

Von Grit Warnat 20.11.2017, 00:01

Halle l Die Sütterlin-Stuben in Deutschland sind rar, besonders im Osten. In Dresden gibt es noch einige „Übersetzer“, in Cottbus – und in Halle. Das dortige Servicebüro, ansässig bei der Paul-Riebeck-Stiftung, ist einmal in der Woche für einige Stunden geöffnet. Zuschriften werden gesichtet und Anfragen bearbeitet. Das Lesen, Schreiben, Übertragen wird zu Hause erledigt. „An uns wenden sich Privatpersonen und Institutionen“, sagt Anita Hohmann.

Die Hallenserin gehört zu den insgesamt 26 Mitstreitern der Sütterlin-Stube, die allesamt ehrenamtlich helfen, den Feldpostbrief aus dem Ersten oder Zweiten Weltkrieg, das alte Rezeptbuch der Uroma, Auszüge aus Kirchen- und Grundbüchern, Poesiealben zu entziffern. Mit dem Denkmalpflege-Amt in Halle hat das Büro auch einen Hauptauftraggeber. „Dort gibt es kilometerweise Aktenordner in alter Schrift“, weiß Anita Hohmann.

Sie mag die Sütterlin-Schrift, die sie selbst als Schulkind gelernt hat. Sütterlin, der Grafiker aus Berlin, der Plakate, Gläser und Lederarbeiten entwarf, hatte 1911 vom preußischen Kultusministerium den Auftrag erhalten, die bis dato gebräuchlichen unterschiedlichen Schreibschriften zu vereinfachen. Es sollte eine Schrift sein, die von den Kindern leichter zu erlernen ist – einfacher und doch modern. 1915 wurde sie an den preußischen Schulen eingeführt.

Auch Anita Hohmann schrieb – noch das Tintenfass und die Feder auf der Schulbank – in Sütterlin-Schreibschrift. Das Mädchen mochte die Schrift mit den schönen Rundungen und den klaren Linien. „In der dritten Klasse mussten wir dann plötzlich lateinisch schreiben“, sagt die heute 84-Jährige und erinnert sich noch sehr genau an einen Satz ihrer Klassenlehrerin: „Wir fangen jetzt noch mal als Abc-Schützen an.“

Die Sütterlin-Schrift durfte es auf einmal nicht mehr geben. Die Nazis verboten sie.Auch die Fraktur war mit einem Rundbrief im Auftrage Hitlers ab 1941 nicht mehr gewünscht – zu jüdisch, so die propagandistische, fadenscheinige Begründung. Verlernt aber hat Anita Hohmann diese schöne, von ihr gemochte Schrift nie – und das trotz jahrelanger Stenografie und Schreibmaschine im Beruf.

Seit mehr als zehn Jahren, sie war längst Rentnerin, beschäftigt sie sich wieder fast täglich mit Sütterlin. Hohmann gehört zum eifrigen, ehrenamtlichen „Stammpersonal“ der Sütterlin-Stube, die es seit 2006 gibt. Doch warum auf einmal wieder Sütterlin? „Der Vorstand der Hallenser Riebeck-Stiftung brauchte damals Hilfe, um das Testament von Paul Riebeck zu entziffern“, sagt Anita Hohmann. Es konnte in die heutige lateinische Schrift übersetzt werden – wie so viele andere Dokumentationen, egal, ob amtlich oder privat.

Über Emotionales in manchem Text will Anita Hohmann nicht reden. Das Besondere gibt es für sie nicht. „Ich freue mich immer, wenn ich helfen kann“, meint sie und sagt, dass sie natürlich auch schon habe kapitulieren müssen. „Man muss immer mit bedenken, wie manch Handschriftliches entstanden ist. Wer an der Front war, hat nun mal nicht am schönen Schreibtisch gesessen.“

Am vergangenen Donnerstag, dem wöchentlichen offiziellen Öffnungstag der Sütterlin-Stube, sind sie zu dritt. Die Damen sind 84 und 85. Vor Anita Hohmann liegt eine DIN-A4-Seite mit Namen derer, die mitmischen. Die Geburtsdaten, hinter den Namen notiert, liegen alle lange zurück. Die Liste war mal doppelt so lang. Einige sind verstorben, andere können aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr mitmachen.

„Die Schrift ist unser Kulturgut, auch Sütterlin“, sagt die Hallenserin und schließt nachdenklich die Frage an, was wird, wenn all jene nicht mehr leben, die wie sie die Schrift noch erlernt haben. Es gibt kaum Nachwuchs mit Interesse und ausreichend Neugierde an dieser Schrift. Vor Jahren hat Anita Hohmann an der Volkshochschule Sütterlin unterrichtet. Es gibt kaum noch Anmeldungen.

„Ich sehe die Entwicklung schon mit Sorge“, sagt Hanno Blohm. Er ist der Vorsitzende des Vereins Bund für deutsche Schrift und Sprache. „Es gibt immer weniger Menschen, die Sütterlin erlernen.“ Dabei habe der Verein Lern- und Lehrmittel entwickelt und nehme regelmäßig an Messen wie der Leipziger Buchmesse teil. „Wir haben die meisten Schriften digitalisieren lassen, aber es ist schwer, das Interesse zu wecken, wenn es keinen speziellen Anlass gibt“, sagt er. Nicht jeder hat plötzlich einen Feldpostbrief vor sich und will entschlüsseln, was der Vorfahr da einst an seine daheimgebliebenen Lieben geschrieben hat. Blohm hofft, dass mit der Ahnenforschung so mancher wieder für diese Schrift zu begeistern ist. Er will nicht daran denken, dass sie weiter in Vergessenheit geraten könnte.