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John Grishams neuer Roman klagt an

03.03.2015, 09:20

Berlin Für Samantha Kofer scheint die Juristenwelt in Ordnung. Am Beginn von John Grishams neuem Roman "Anklage" arbeitet die 29-Jährige als Anwältin in der größten Kanzlei von New York und befasst sich damit, große Immobiliengeschäfte rechtlich abzusichern.

Der Karriere samt hohem Einkommen scheint nichts im Wege zu stehen. Dann schlägt die Finanzkrise des Jahres 2008 zu. Wie Hunderte andere New Yorker Anwälte verliert sie ihren Arbeitsplatz. Auf einmal steht die verwöhnte Tochter aus wohlhabendem Hause vor dem Nichts. In der Hoffnung auf eine bessere Zukunft nimmt sie zur Überbrückung einen unbezahlten Job in einer Rechtsberatung in der Provinz an.

Mit ihrem Umzug in eine kleine Ortschaft in der Bergbauregion des Staates Virginia betritt Samantha so etwas wie eine neue Welt. Die Menschen sind bitterarm, scheinbar hilflos den mächtigen Kohleunternehmen ausgeliefert und unfähig, sich aus ihrem Elend herauszuhelfen.

Auch beruflich beginnt ein neues Zeitalter für die junge Anwältin. Statt in ihrem Büro zu sitzen und Akten zu prüfen, muss sie nun zum ersten Mal in ihrem Leben einen Gerichtssaal betreten, um dort einen Mandanten zu vertreten. Und die Fälle, die sie nun betreut, drehen sich nicht um Millionenbeträge, sondern um ungerechtfertigte Lohnpfändungen, Unterhaltssicherungen und Scheidungen.

Das wahre Leben bestimmt nun ihr Dasein. Sogar eine Romanze erlebt sie, zu der sie in ihren New Yorker 100-Stunden-Arbeitswochen nie Gelegenheit gehabt hätte.

Aber natürlich bleibt ein Grisham-Roman ein Grisham-Roman und bekommt ein großes Thema. In "Anklage" ist dies der Machtmissbrauch durch die großen Kohleunternehmen. Grisham stellt überaus drastisch dar, wie der Tagebau die schöne Natur des Appalachen-Gebirges zerstört, Gewässer und Böden vergiftet und die Menschen in Krankheit und Elend treibt. Samanthas Chefin hat schon fast resigniert: "Sie gewinnen immer, denn sie machen die Regeln".

Ein ebenso typischer wie tragischer Fall zieht Samantha in dieses Thema. Sie vertritt einen schwer kranken Arbeiter, dem die Bergbaufirma die Betriebsrente verweigert. Bei dieser Auseinandersetzung lernt sie rücksichtslose Härte kennen, mit der diese Kohlefirmen ihre Interessen verfolgen und vor nichts zurückschrecken.

Grisham (60) versteht es meisterhaft, die verschiedenen Dimensionen des Konflikts zu dramatisieren. Während Samantha ihrem Mandanten zu helfen versucht, wird auch durch die Fälle ihrer Kolleginnen immer deutlicher, wie die Menschen den Firmen ausgeliefert sind.

Für Samantha stellt sich zunehmend die Frage nach ihrer eigenen Position. Soll sie zurückkehren in die sterile aber gut bezahlte New Yorker Anwaltswelt, oder ist ihr Platz bei denen, sie auf sie bauen, auch wenn sie ihr keine Reichtümer bieten können?

Grisham bietet keine einfachen Lösungen an. Stattdessen entwickelt er "Anklage" immer mehr vom Justizthriller zu einer hervorragend illustrierten Anklageschrift gegen den Mangel an Gerechtigkeit in der amerikanischen Gesellschaft.

John Grisham: Anklage. Heyne Verlag, München, 510 Seiten, 22,99 Euro, ISBN 978-3-453-26909-5