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"Wir leben in der Hölle" - Tagebuch aus Tschetschenien

10.03.2015, 11:45

Berlin - Leise begann der Krieg Russlands gegen seine abtrünnige Kaukasusrepublik Tschetschenien vor gut 20 Jahren. Zuerst wird das Essen knapp, hier und da hört man Explosionen, die ersten Hubschrauber und Flugzeuge kreisen über der Hauptstadt Grosny.

"Mein Herz klopft. Werden sie uns töten?" So erlebt die neunjährige Polina 1994 den Beginn des Krieges. Sie lebt in der tschetschenischen Hauptstadt Grosny, und ihre Mutter kauft ihr Nusstorte.

"Sei gegrüßt, Tagebuch!" - So beginnt Polina ihr Tagebuch 1994. Es ist eines der erschütterndsten Dokumente über die fast vergessenen Tschetschenien-Kriege, die zwischen 1994 und 2005 nach Schätzungen der russischen Menschenrechtsorganisation Memorial insgesamt fast
90 000 Menschen in den Tod rissen. Erst 2009 wurde der Krieg von Moskau offiziell für beendet erklärt. Bis heute kommt es zu tödlichen Anschlägen in dem Konfliktgebiet.


Polina kann mit ihrer Mutter der "Hölle" nicht entfliehen. Sie sitzt in Grosny mittendrin und zwischen allen Fronten und wächst auf mit Tod und Terror. Dass sie das alles überlebt hat - Sprengfallen, Scharfschützen, Bombenangriffe auf Busse - kann man nicht anders nennen als ein Wunder. Denn als Tochter einer Russin und eines Tschetschenen wird sie zudem auch von Mitschülern als "russische Hündin" verschrien, geschlagen und gedemütigt.

"Polinas Tagebuch", diese kindliche Innensicht des Krieges, ist nun auch auf Deutsch erschienen. Bis 2009 führt Polina Scherebzowa, die nach Drohungen und Angriffen in Moskau heute in Finnland Asyl gefunden hat, ihr Tagebuch in Heften, die sie vor Bomben und Plünderern retten konnte.

In Polinas Kriegskindheit gibt es nur Hunger, Kälte, Angst und Schreie der Sterbenden. Die Ratten ziehen in die Küche ihrer halb in den Keller gestürzten Wohnung ein. "Die Welt, durch die wir irren, ist verkohlt und von Eisen zerpeitscht." Polina vergleicht ihr Aufzeichnungen mit dem Tagebuch des Mädchens Lena Muchina während der Blockade Leningrads durch die Wehrmacht 1941 bis 1944.

Dudajew, Maschadow, Bassajew, Jelzin, Putin - Namen von tschetschenischen Kommandeuren und russischen Präsidenten tauchen in Polinas Tagebuch nur schemenhaft auf. Erst als sie älter wird, fragt sie nach politischer Verantwortung. "Putin spuckt auf die Menschen in Tschetschenien", schreibt sie als 17-Jährige.

Mit ihrer Sprachkraft zieht uns Polina in ihren Überlebenskampf hinein und keine Distanz ist mehr möglich. Tod und Mädchenträume stehen nebeneinander. Eine Beschreibung, wie Jungen von ihrem Hof einem halb verbrannten russischen Soldaten einen "Gnadenschuss" geben, ist ebenso wichtig wie ihr Traum von der ersten Liebe.

Polina stammt aus einer gebildeten Familie mit einem multikulturellen Hintergrund. Sie kennt tschetschenische Traditionen ebenso wie russische und jüdische Feiertage und Gebete aus dem Koran. Yoga-Übungen helfen ihr, die täglichen Alpträume zu verarbeiten. Polinas Mutter wird angesichts des Bombenterrors hysterisch und schlägt sie blutig. Ihr Vater ist lange tot.

1999 wird Polina bei einem Angriff auf den zentralen Markt von Grosny am Bein durch Splitter verletzt. "Der Tod und ich, wir allein waren in dieser Welt miteinander verbunden", schreibt die erst 14-Jährige. Humanitäre Hilfe erreicht das elende Mutter-Tochter-Paar, das zwischen allen ethnischen Fronten lebt, nicht. Sie schmelzen schmutzigen Schnee und backen mit verschimmeltem Mehl. Trotzdem geht Polina zur Schule und schafft es im Krieg sogar bis zur Uni.

Zwischen all diesen traumatischen Kriegserlebnissen stehen wiederum bezaubernde Gedichte, und Polina verwandelt sich in die "Prinzessin Budur". Im Brummen der Bomber hört sie "eine Melodie aus dem Totenheft des Todes".

Am 20. März wird Polina Scherebzowa 30 Jahre alt. Ihr Tagebuch ist eines der wichtigsten Zeugnisse eines bis heute nicht befriedeten Konflikts. Wohl nie zuvor wurde der Kriegsalltag im zerbombten Grosny so genau und so schrecklich beschrieben. "Wir leben in der Hölle! Sie ist hier, auf Erden!", schreibt Polina. "Und wenn ich bis übermorgen überlebe, hole ich mir mein Kindergeld ab."

Am 14. März tritt sie bei der Leipziger Buchmesse und am 15. März bei der Lit.Cologne auf.

- Polina Scherebzowa, "Polinas Tagebuch", Rowohlt Berlin, 2015, 576 Seiten, ISBN 978-3-87134-799-3, 22,95 Euro.