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Alexander Kluge schreibt über den 30. April 1945

08.07.2014, 12:21

Berlin - Das Buch passt nicht ganz in dieses Jahr, in dem sich der Beginn des Ersten Weltkriegs zum 100. Mal jährt:

Alexander Kluges "30. April 1945" ist seiner Zeit gewissermaßen voraus. Es blickt auf das Ende des Zweiten Weltkriegs und konzentriert sich auf den Tag, an dem Hitler sich in Berlin erschoss und an dem für Kluge "die Westbindung der Deutschen begann". Es ist keine ganz leichte Lektüre, nichts zum schnellen Herunterlesen.

Kluge (82) fügt viele oft kleine Episoden aneinander. Sie zusammen ergeben ein vielschichtiges Bild von diesem Kriegstag. Kluge schildert Dutzende Einzelschicksale, die alle auf ihre Weise schrecklich und traurig sind. Da ist die Familie, die vor Roten Armee nach Westen fliehen will, dann aber an einem Fluss wegen einer zerstörten Brücke nicht weiterkommt. Der Vater erschießt daraufhin seine Frau, seine Tochter und dann sich selbst.

Oder da ist eine Mutter, die mit drei Kindern flieht. Als der Treck angegriffen wird, schickt sie die drei in den Wald, sie sollen an einem Holzstoß warten, an dem sie am Tag davor vorbeigekommen sind. Aber die Kinder finden die Stelle nicht - und die Mutter sieht sie nie wieder. Auch nach dem Krieg bleibt ihr Schicksal im Dunklen: Hat jemand sie mitgenommen? Sind sie verhungert?

Oder der halbjüdische Wehrmachtssoldat, der an der Ostfront als Pilot eingesetzt war. Nun soll seine Einheit in die Waffen-SS eingegliedert werden. Seine jüdische Herkunft droht damit aufzufliegen, noch kurz vor Ende des Krieges. Und so entschließt er sich zur riskanten Flucht über die Grenze zur Schweiz.

Natürlich gibt es auch grausame Kriegsszenen, wie die von Kämpfen im Osten Berlins: "Häuserstalagmiten, was einst Stadt gewesen ist eine zerstürzte Höhle mit einem Himmel aus Qualm. Gestank nach allem, was brennen kann." Und dazwischen drei versprengte, orientierungslose Wehrmachtssoldaten, die bei einem plötzlichen Angriff wie Geschosse aus Fleischklumpen durch die Luft geschleudert werden.

Aber Kluge erzählt auch ganz andere Facetten: von einem Friseurbesuch, bei dem sich ein Mann wie in Friedenszeiten in aller Ruhe die Haare schneiden lässt zum Beispiel. Oder von Gitti und Captain Sinclair, für die der Krieg schon vorbei ist und wie sie sich trotz Fraternisierungsverbots näherkommen. Das alles passiert, ohne dass die einzelnen es wissen, ohne, dass sie sich es nur vorstellen könnten, an einem Tag: dem 30. April.

Alexander Kluge: 30. April 1945. Der Tag, an dem Hitler sich erschoss und die Westbindung der Deutschen begann, Suhrkamp, Berlin, 316 Seiten, 24,95 Euro, ISBN: 978-3-518-42420-9