1. Startseite
  2. >
  3. Kultur
  4. >
  5. Buch
  6. >
  7. Die Zwergin und die Zeit: Thomas Hettches "Pfaueninsel"

Die Zwergin und die Zeit: Thomas Hettches "Pfaueninsel"

23.09.2014, 15:21

Köln - Diese Geschichte hat eine Geschichte, eine wahre - nachzulesen in diverser historischer Literatur über die Havel und ihre Pfaueninsel und über das preußische Königshaus.

Doch ist das Drumherum Märchenstoff mit all seiner wunderbaren und bitteren Wahrheit und elementar in seiner Wirkung auf Herz und Verstand.

Thomas Hettches (49) neuer Roman "Pfaueninsel" - nominiert für den diesjährigen Deutschen Buchpreis - wird beim Leser große Gefühle wecken. Wie auch immer diese geartet sind.

Da geht es durchweg um Monströses, wie etwa die Zeit, die Vergänglichkeit. Gewaltig auch die Betrachtung der Natur, die Antikörper gegen menschliche Bevormundung entwickelt - und das nicht nur botanisch gesehen. Nicht weniger gigantisch wird das Thema Liebe behandelt - deftigen (auch inzestuösen) Sex inklusive. Das alles verbindende Element ist ein "Monster" - die Zwergin Marie. Sie hat den von der preußischen Königin Luise für ihren ebenfalls kleinwüchsigen Bruder Christian gefundenen Begriff auf sich übertragen und kann sich Zeit ihres Lebens davon nicht freimachen.

Mit Hilfe Maries - eine historische Person des 19. Jahrhunderts - blickt der erfolgreiche Autor ("Ludwig muss sterben") auf den Wandel der Zeit mit ihren Modeerscheinungen und ihrer industriellen Explosion - ohne allerdings das tatsächliche Leben der Maria Dorothea Strakon (1800-1880) zu kennen. Denn von ihr ist bis auf die Lebensdaten kaum etwas überliefert. Hettches Marie ist also das Resultat seiner Fantasie. Mal abgesehen von der Tatsache, dass sie 1806 als Schlossfräulein auf die Pfaueninsel mitten in der Havel kommt und Generationen des preußischen Königshauses er- und überlebt.

Ach ja, Maries Leben. Wie grausam es ist. Ihr ist stets bewusst, dass ihre Kleinwüchsigkeit sie zu einem Schauobjekt macht, gleichsam wie die vielen exotischen Tiere, die Friedrich Wilhelm III. auf die Pfaueninsel verfrachten lässt. Ihre große Sehnsucht nach Liebe kann nicht erfüllt werden. Der körperlichen Vereinigung aber scheint Maries Zwergengestalt keinen Abbruch zu tun. Sie fördert eher im Gegenteil bei einigen Männern eine Art perverses Verlangen. Eine Erfahrung, die sie mit Christian teilt. Dessen orgiastische Revolte endet zwangsläufig in einer Katastrophe.

So tragisch oder zumindest unnatürlich das Schicksal vieler auf das Havel-Eiland verschlagenen menschlichen und tierischen Kreaturen auch ist, so fantasievoll und einzigartig die unter anderem durch den Gartenkünstler Peter Joseph Lenné gestaltete und vergewaltigte Natur der Insel auch sein mag, so fragil ist doch das Gesamtkunstwerk Pfaueninsel - wie sich Jahrzehnte später zeigen wird. Wie das Konstrukt der Verbindungen zwischen Mensch und Natur, zwischen Macht und Ohnmacht und vor allem zwischen Vergangenheit und Gegenwart mit visionärer Tendenz entsteht und vergeht, ist einfach meisterlich beschrieben.

Hettches historisierendes Märchen ist nicht einfach nur Zeitgeschichte oder eine Geschichte über die Zeit im Wandel. Es ist eine Reflexion über Menschen und Menschlichkeit eines Jahrhunderts, wo Marie zwar das Kind, nicht aber ihre Würde genommen werden kann. Und es ist eine zauberhafte und einzigartige Erzählung, in der die Antipoden des Seins eine Symbiose eingehen.

- Thomas Hettche: Pfaueninsel. Kiepenheuer&Witsch, Köln, 352 Seiten, 19,99 Euro, ISBN 978-3-4620-4599-4.