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Bestseller-Autor „Creep“ von Philipp Winkler: Die dunklen Ecken der Existenz

Wo landen Menschen, die im normalen Leben nie angekommen sind? Dieser Frage geht der Bestseller-Autor Philipp Winkler aus Niedersachsen in „Creep“ nach - dem Nachfolger seines vielgelobten Debüts.

Von Birgit Zimmermann, dpa 25.01.2022, 10:29
Wo landen Menschen, die im sogenannten normalen Leben nie angekommen sind? Dieser Frage geht Philipp Winkler in „Creep“ nach.
Wo landen Menschen, die im sogenannten normalen Leben nie angekommen sind? Dieser Frage geht Philipp Winkler in „Creep“ nach. Aufbau Verlag/dpa

Leipzig - „Creep“, der Titel von Philipp Winklers neuem Roman, ist in der Popkultur schon lange verwurzelt.

Die britische Band Radiohead schrieb 1992 einen unvergänglichen Song dieses Titels. Darin wird ein „Creep“, ein „Weirdo“ besungen, der jemanden begehrt, aber selbst nicht klarkommt und sich fragt: „What the hell am I doing here?“ („Was zur Hölle mache ich hier?“) und bilanziert: „I don't belong here.“ („Ich gehöre hier nicht her.“). Radioheads „Creep“ wirkt wie die gesungene Grundidee von Winklers Buch - nur dass seine Titelfiguren sich zusätzlich in die düsteren Ecken des Internets flüchten.

„Creep“ ist der Nachfolger von Winklers Debütroman und Bestseller „Hool“ über einen jungen Mann aus der Hannoverschen Hooligan-Szene. Das Buch wurde viel gelobt, ausgezeichnet, in mehrere Sprachen übersetzt und für die Bühne umgearbeitet. Eine Verfilmung ist in Vorbereitung. Nun hat sich der 1986 geborene Autor an die nächste, für die meisten Menschen verschlossene Welt herangewagt: die des Darknets, jenen entgrenzten Teil des Internets, der allgemein auch als Tummelplatz für Verzweifelte, Gestörte und Kriminelle gilt und für den man mindestens den Tor-Browser als Eintrittskarte installieren können muss.

Zwei unglückliche Außenseiter

Winkler, der bei Hannover aufgewachsen ist und dem Aufbau Verlag zufolge in Niedersachsen auf dem Land lebt, schreibt über zwei unglückliche, isolierte Außenseiter: Fanni (Fabienne) Behrends, technikaffine Tochter aus einem sogenannten guten Hause irgendwo in Deutschland, die bei einer Firma arbeitet, die Überwachungskameras herstellt, und Junya Yamamura, ein Hikikomori aus Tokio. Hikikomori werden in Japan Menschen genannt, die an einer Sozialphobie leiden und sich gesellschaftlich zurückziehen.

Fanni und Junya haben beide ihre dunklen Geheimnisse. Die eine ernährt sich ausschließlich von abgepackter Soldatennahrung und findet nur Ruhe, wenn sie sich in die Überwachungskameras einer Mutter-Vater-Kind-Bilderbuchfamilie hackt. Noch dazu verkauft sie Kundendaten an anonyme Internetnutzer. Der andere hat in seiner Kindheit und Jugend unerträgliche Mobbing-Erfahrungen gemacht und nimmt dafür Rache im nächtlichen Tokio. Ohne dass sie voneinander wissen, hat das Internet einen Link hergestellt zwischen Fanni und Junya.

Schlag nach bei Google

Winkler hat in dieser Internetwelt akribisch recherchiert. Für technisch Interessierte kann das spannend sein, für weniger bewanderte Leserinnen und Leser ist das nicht immer einfach. Wer keine Vorstellung hat, wie eine „Shock Site“ wohl aussehen könnte, oder was bei einer „NFC-Attacke“ eigentlich passiert, der wird „Creep“ nur mit dem Handy in der Hand lesen können.

Das gleiche gilt für die Sprache in „Creep“. Fanni fühlt sich in einem „Meat Prison“ gefangen, tut Dinge „just for the lulz“ und ist im Digitalen zu Hause, aber nicht „IRL“. Auch Junyas Welt erschließt sich nicht so leicht. Das liegt allerdings weniger an der Sprache als an der Tatsache, dass er in Japan unterwegs ist. Es würde helfen, wüsste man einfach, was „Hashi“ sind und was „Kanojos“. Es gilt das Motto: „Google is your friend“ - man muss viel nachschlagen.

Winklers Buch bietet einen Einblick in eine für viele wohl bisher eher undurchsichtige Seite des Internets. Nicht durchgehend gelingt es ihm dabei, ein spannendes Buch zu schreiben. „Creep“ kann schmerzhaft sein. Die Titelfiguren Fanni und Junya quälen sich durchs Leben. Beide steuern wie in einem Drama unweigerlich auf eine Katastrophe zu - und als Leserin oder Leser fragt man sich, wie viele solche Menschen es tatsächlich gibt.