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Literatur Wie Grenzer die Mauer sahen

Sie war mal Alltag, mal Grauen: Die Berliner Mauer aus Sicht der DDR-Grenzer. Zwei neue Bücher zeigen Bilder und Aufzeichnungen.

Von Wilfried Mommert 02.08.2016, 23:01

Berlin (dpa) l Für 148 Schüsse auf einen Flüchtling gab es eine Beförderung und eine Armbanduhr als „Sachprämie“. Die Hunde im Todesstreifen trugen Namen wie „Arras von der Wasserstraße“ und „Quinte von der Teufelswand“: Notizen und Aktenvermerke aus der lange geheimen Archiv-Hinterlassenschaft der DDR-Grenztruppen. Sie werden jetzt in einer ebenso detailreichen wie historisch verdienstvollen zweibändigen Text-Foto-Edition von der Autorin Annett Gröschner, dem Fotografen Arwed Messmer und weiteren Autoren dokumentiert

Mit deutscher Gründlichkeit wird der Mauerbau von 1961 durch Berlin und um den Westteil herum in den folgenden Jahren von den DDR-Grenzsoldaten mit Kleinbildkameras oft amateurhaft dokumentiert, um die Grenzanlagen immer „perfektionierter“ zu machen. Die Bücher zeigen mehr als 1000 Bilder. Die ersten Wachtürme (von über 200) gleichen wackligen, weil schnell zusammengezimmerten Jagdhochständen. Unterstände erinnern an Pfadfinderhöhlen oder WC-Häuschen, Grabsteine eines Friedhofs werden zum Hocker umfunktioniert, Drahtverhaue erinnern an Laufgräben des Ersten Weltkriegs. Alles wurde zunächst mit einbezogen, auch Bahndämme, Hausfassaden und Fabrikmauern.

Erst sehr viel später entstand eine „durchrationalisierte Weglaufsperre“, wie es sie zuvor noch nirgendwo gegeben habe, heißt es in der Dokumentation. Dabei wird auch daran erinnert, dass Moskau bei seiner Zustimmung zu den drastischen Absperrmaßnahmen am 13. August 1961 zunächst nur Stacheldraht genehmigt habe. Die Grenzsperren der ersten Jahre seien noch ein „scheinbares Provisorium von beeindruckend banaler Boshaftigkeit“ gewesen, schreibt Mitautor Matthias Flügge in dem Buch.

Die Wucht der ersten Grenzdurchbrüche (die zahlreichen Fluchttunnel wurden nach ihrer Entdeckung akribisch fotografiert) führten zu einem Umdenken der Sicherheitsorgane. Ein weiterer Autor, Olaf Briese, spricht von einem „ungeplanten Selbstläufer“, resultierend aus dem ungebrochenen Fluchtwillen vieler Ostdeutscher „und der demonstrativen alliierten Gleichgültigkeit gegen die Absperrung“. Der „Selbstläufer“ hatte auch einen „Maßnahmeplan“ für den „Perspektivzeitraum 1991–1995/2000“ mit einer Mauer aus Infrarot- und Mikrowellenschranken – aber Abschaltung der kostspieligen Grenzbeleuchtung, der Staat musste sparen. 1966 war die Mauer um West-Berlin herum fast 164 Kilometer lang, bewacht von 13 000 Grenzsoldaten auf Motorrädern und zu Fuß und von 800 Hunden. Dabei ergaben sich vielerlei, auch „außerdienstliche Kommunikationen“ über die Grenze hinweg, wie die Autoren aus den Akten der Militärarchive zitieren. West-Berliner versuchten auch, mit den Grenzsoldaten „anzubandeln“, Zigaretten und Zeitungen wurden rübergeworfen und es gab sogar Frauen, die sich ausgezogen haben. Der Tauschhandel florierte. Was der Westen rief, wurde auf östlicher Seite penibel protokolliert (auch Beschimpfungen und Drohungen wie „Ihr seid Mörder, das wird alles registriert!“).

„Inventarisierung der Macht. Die Berliner Mauer aus anderer Sicht“ erscheint im Hatje Cantz Verlag.