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Vor 125 Jahren wurde Siegfried Kracauer geboren

07.02.2014, 08:53

Frankfurt/Main - Schon als Kind streunt er ziellos durch die Straßen. Später macht er dies leidenschaftlich als Journalist in Frankfurt und Berlin.

Mit seinen Beobachtungen aus dem Kaufhaus, von Revuegirls oder U-Bahnhöfen gehörte Siegfried Kracauer zu den ersten Flaneuren der modernen Großstadt. Als Architekt, Kritiker, Soziologe, Romancier und Philosoph war er einer der faszinierendsten und produktivsten Intellektuellen der Weimarer Republik. Kracauer, der am 8. Februar vor 125 Jahren geboren wurde, bleibt auch als Begründer der Filmtheorie in Erinnerung.

Kracauer stammt aus einer kleinbürgerlichen jüdischen Familie in Frankfurt - geboren wurde er 1889 im selben Jahr wie Adolf Hitler und Charlie Chaplin. Die Atmosphäre zu Hause war eher beklemmend, da die aus Schlesien kommenden Eltern in Frankfurt ihre soziale Deklassierung verarbeitet mussten. Dem entzieht sich der junge Siegfried, der sich viel lieber "Friedel" nennt: "Wie ein Mondsüchtiger" werde er aus dem Haus getrieben, schrieb einst Kracauer, der sich auch wegen eines Sprachfehlers immer als Außenseiter fühlte.

Im Ersten Weltkrieg hat er Glück, da er nur kurzzeitig bei der Fußartillerie in Mainz ist. Nach seiner Rückkehr lernt er in Frankfurt den 14 Jahre jüngeren Theodor W. Adorno kennen, mit dem er jeden Samstag die großen deutschen Philosophen wie Kant liest. Daraus wird eine lebenslange Freundschaft mit anfangs homoerotischen Zügen und späteren Belastungsproben - die Wege der beiden sollten sich immer wieder kreuzen.

Kracauer wird 1921 Redakteur der damals geistig führenden "Frankfurter Zeitung", zuerst im Lokalen und dann als Filmkritiker. Dem Kreis der großen jüdischen Intellektuellen am Institut für Sozialforschung, aus der nach dem Krieg die berühmte Frankfurter Schule hervorging, bleibt er nahe. Dazu gehören neben Adorno auch Leo Löwenthal oder Max Horkheimer.

In seinen Werken hat Kracauer etwa in "Das Ornament der Masse" oder der bahnbrechenden Studie "Die Angestellten" - die kapitalistische Gesellschaft sehr plastisch beschrieben. Als Kulturkritiker hat er jedoch die neuen Formen der Unterhaltungsindustrie wie den Film nicht nur negativ und damit eindimensional gesehen.

Zugleich hat er die Gefahren der Massenkommunikation - etwa im Dienste der Nazi-Faschisten - früher erkannt als andere. Darauf weist der Kracauer-Experte Wolfgang Schopf hin. Der Leiter des Literaturarchivs an der Goethe-Universität Frankfurt hat auch den Briefwechsel zwischen Kracauer und Adorno ediert, der im Suhrkamp Verlag erschienen ist.

Als Kracauer 1930 für das Feuilleton seines Blattes nach Berlin geht, bleibt er dort nur drei Jahre. Nach der Machtergreifung der Nazis geht er mit seiner Frau Lili als Korrespondent nach Paris - seine Zeitung lässt ihn dann dort fallen. 1941 gelingt ihm im letzten Augenblick über Lissabon die Flucht nach New York - dafür hat sich auch sein bereits in die USA ausgewanderter Freund "Teddie" eingesetzt. Adorno hatte zuvor das Werk des Freundes - nicht zum ersten Mal - als "Warenschriftstellerei" verunglimpft.

Kracauer will Mutter und Tante aus Frankfurt noch herausholen - doch es fehlt das Geld für die Reise. Beide werden deportiert und später ermordet. In ihr letztes Wohnhaus im Frankfurter Westend zieht dann 1945 - zufällig - ausgerechnet Adorno. Als er aus den USA zurückkehrt, wird er mit Horkheimer zum maßgeblichen Intellektuellen der Nachkriegszeit und gefeierten Hochschullehrer. Kracauer kommt dagegen nur noch auf Urlaub nach Deutschland. Von New York ist der geborene Flaneur begeistert. Er stirbt dort 1966 im Alter von 77 Jahren.

Dass Kracauer in der neuen Heimat blieb, ist sicher ein Grund dafür, dass sein voluminöses Werk bis heute nicht die ganz große Resonanz erfahren hat. Frankfurt hat an seinen Sohn im vergangenen Jahr wieder erinnert. Im Rahmen der Aktion "Frankfurt liest ein Buch" wurde Kracauers Roman "Ginster", der die Stadt aus der Perspektive des Ersten Weltkriegs beschreibt, in mehr als 60 Veranstaltungen neu vorgestellt.

Aber hat uns Kracauer auch heute noch was zu sagen? "Es gibt keinen politikfernen Raum - auch nicht in der Kunst. Das zählt zu Kracauers bleibendem Verdienst", sagt Schopf.