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Kriegsende 1945: Ein tiefer Einschnitt ohne Stunde Null

24.04.2015, 13:41

Berlin - Im März 1945 - Hitler lebte und plante noch - kam der britische Schriftsteller George Orwell als Kriegsreporter in das schon befreite Köln. Und wunderte sich. "Ausgesprochen seltsam" fand er die Erfahrung.

"Man sieht sich umgeben von diesem Herrenvolk, das auf Fahrrädern seinen Weg zwischen den Trümmerhaufen sucht. Es ist schwer vorstellbar, dass es sich um die gleichen Menschen handelt, die gerade noch den europäischen Kontinent beherrschten." Sie seien auch wirklich nicht alle "hochgewachsen, blond und arrogant". Insgesamt erschienen sie ihm "keineswegs besonders auffällig".

Diese Verwunderung ist bis heute nicht abgeklungen. Noch immer beschäftigen sich Historiker auf der ganzen Welt mit der Frage, wie das deutsche "Kulturvolk" sich den Nazis verschreiben, den schlimmsten aller Kriege vom Zaun brechen und einen Massenmord beispiellosen Ausmaßes verüben konnte. Und wie es dieselbe Nation dann fertigbrachte, zumindest im Westen des Landes innerhalb von einer Generation eine vorbildliche Demokratie aufzubauen. Antworten auf diese Frage können vielleicht auch eine Hilfestellung für Gesellschaften sein, die sich heute in einer Übergangsphase zwischen Diktatur und Demokratie befinden.

Es sei "eine merkwürdige Mischung" von Gefühlen, mit der man als Deutscher heute auf das Kriegsende vor 70 Jahren zurückschaue, meint der Berliner Historiker Paul Nolte. Einerseits fallen viele Konstanten ins Auge, andererseits markiert das Jahr 1945 auch eine klare Zäsur. Die Zeitgenossen sprachen damals von der "Stunde Null" und meinten damit einen völligen Neuanfang, sowohl politisch wie wirtschaftlich.

"Die Vorstellung eines absoluten Bruchs ohne Kontinuitäten erscheint heute geradezu abwegig", sagt der Bochumer Historiker Constantin Goschler. "Man fragt heute eher: Warum sprach man nach dem Krieg von einer Stunde Null?" Das Personal in Wirtschaft, Justiz und teilweise sogar in der Politik war nach dem Krieg das gleiche wie vorher. Und wenn auch die Zentren vieler deutscher Städte in Trümmern lagen, so waren die Wirtschaftsbetriebe doch noch zu mehr als der Hälfte intakt.

Vieles ging also weiter. Aber gleichzeitig veränderte sich Grundlegendes. Nolte hebt hervor: "Das nationalsozialistische Regime war mit einer Brutalität und Eindeutigkeit zuende, wie man es in der Geschichte selten erlebt hat. Viele haben das als Befreiung erlebt. Man kann wohl sagen, dass Erleichterung überwog."

Was nicht bedeutet, dass die Kriegsgeneration fortan durch und durch demokratisch gewesen wäre. Nolte erinnert sich: "Bis in die 1980er Jahre konnte man ja von den Großeltern hören: "Unter Hitler war nicht alles schlimm - wenn er nur nicht mit dem Krieg angefangen hätte!" Diese Form der Kontinuität blieb tatsächlich noch drei bis vier Jahrzehnte bestehen."

Erst schrittweise wurden sich die Deutschen des vollen Umfangs von Holocaust und Völkermord bewusst. Ein erster Meilenstein waren die von Fritz Bauer initiierten Auschwitz-Prozesse Anfang der 60er Jahre. Dann kam die massive Kritik der 68er an der Generation ihrer Eltern. Eine kaum zu unterschätzende Wirkung auf die Masse der Bevölkerung hatte 1979 der amerikanische Fernseh-Vierteiler "Holocaust - Die Geschichte der Familie Weiss". Aber es dauerte noch bis in die 90er Jahre, ehe sich die Erkenntnis durchsetzte, "dass wir den Krieg und das Geschehen des Holocaust zusammendenken müssen", wie Nolte es ausdrückt.

Auch damit ist die Entwicklung nicht zu Ende. Goschler meint: "Was Historiker machen, ist ja letztlich immer, die Vergangenheit aus der jeweiligen Perspektive der Gegenwart zu betrachten. Und dadurch, dass sich die Gegenwart verändert, stellt man auch neue Fragen an die Vergangenheit."