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Fotografie Das 365-Tage-Projekt

Die Magdeburger Fotografin Elisabeth Heinemann mag Langzeit-Projekte. Jetzt bearbeitet sie ein Ganz-Jahres-Projekt.

Von Grit Warnat 17.09.2018, 01:01

Magdeburg l Jeden Tag ein Foto, nun ja, der Aufwand mit moderner digitaler Technik hält sich in Grenzen, könnte man meinen. Nicht so bei Elisabeth Heinemann. Die seit 1996 freiberuflich tätige Fotografin ist Perfektionistin. Sie will ausstellungsreife Fotos. Die liegen im Moment entwickelt und in verschiedenen Größen stapelweise bei ihr daheim. Sie ist am Sortieren, am Wichten, am Passpartout zuschneiden. Wer den Arbeitstisch sieht, der blickt in jede Menge Gesichter, auf Blumen, alte Werkhallen, Straßen und Bäume. Das meiste ist schwarz-weiß. Wer Heinemann kennt, der weiß, das ist ihr Arbeitsstil. Seit Jahren.

Keine Ahnung, sagt sie auf die Frage, wie viele Fotos in dem einen Jahr entstanden sind. Viel, viel mehr als 365. Aber an den Ursprung der Idee, jeden Tag ein professionelles Foto „im Kasten“ zu haben, kann sie sich noch bestens erinnern. Es habe sie ganz spontan übermannt. Das Jahr 2016 war gerade mal wenige Stunden alt. An jenem Neujahrstag fuhr sie mit ihrem Mann heimwärts über Nebenstraßen. Links und rechts des Weges gab es kleine Dörfer und einsame Natur. Motive fand sie etliche. „Das war mein erstes Foto“, sagt sie und zeigt einen Schwarz-Weiß-Abzug. „Es ist bei Belzig.“ Bäume stehen in trauriger Landschaft. Es ist Winterzeit.

„Ich habe mich damals entschieden, an jedem Tag einen besonderen Moment einzufangen“, sagt sie. Rückblickend meint die Fotografin, das sei ihr gelungen. Auf sehr verschiedene Weise. Festgehalten hat sie strahlende und traurige Menschen, schöne und verfallene Architektur, werdende und vergehende Natur. Da sind der Spaziergänger an der Hubbrücke, der Rad fahrende alte Herr im Schnee, ein Ehepaar, Hand in Hand, die unter Dampf stehende Brockenbahn, die ausgedienten Bergbaugiganten in Ferropolis, der große Kopf einer Sonnenblume.

Immer wieder hat die 59-Jährige Blumen fotografiert – ein bis dato eher untypisches Motiv für Elisabeth Heinemann. Sie hat die blühende Pracht für sich entdeckt, als sie zwischenzeitlich krank war und nicht vor die Türe konnte. Einen Tag kein Foto machen, sei nicht infrage gekommen, sagt sie. Sträuße von Freunden waren Motiversatz für das, was ihr in der Stadt, in der Landschaft oder beim Einkauf entging. Das Jahres-Foto-Projekt musste schließlich fortgeführt werden.

Bei ihren Blumenfotografien ist vielleicht am deutlichsten sichtbar, wie aufwändig das 365-Tage-Projekt ist. Da gibt es keinen bunten Strauß auf ihrem Wohnzimmertisch. Heinemanns Blumen sind wie Porträts, drapiert vor einem neutralen hellen oder dunklen Hintergrund. Zweige, Blätter.Ihre Schachbrettblumen zum Beispiel wirken plastisch, intensiv. Hier gehen Details nicht in der Menge unter. Ihre Mutter Pia-Monika Nittke, die seit Jahren Lyrik schreibt, nennt dies „Choreographie“. Sie hat zu diesem Foto gedichtet: „Wie Tänzerinnen,/ die sich gefunden haben / zu einem Pas de deux, /verharren sie synchron in einer Kunstfigur. / Ihr elegantes Spiel, / von eigener Ästhetik, /spricht für den Choreographen, /der sich nennt / Natur.“

Ist eine Blüte verwelkt, bleibt sie Fotomotiv. „Werden und Vergehen haben mich schon immer interessiert“, sagt die Magdeburgerin, die seit Jahren auch alte Menschen in den Mittelpunkt ihrer Fotoarbeit rückt. Es ist ein weiteres ihrer aufwändigen Projekte, für das die gebürtige Zittauerin in Pflegeheimen und Alteneinrichtungen nicht nur mit der Kamera, sondern auch mit Stift und Papier unterwegs ist. Heinemann hält Gesichter fest und mit den Falten und den traurigen oder lächelnden Augen auch einen Teil der Lebensgeschichten der Menschen. Krieg, Liebe, Leid, Glück.

Für ihr Prominenten-Projekt – sie hatte Dutzende Leute wie Günter Grass, Willi Sitte, Egon Bahr, Reinhold Messner, Rolando Villazon, Christoph Hein vor der Kamera – hat sie jüngst die Holocaust-Überlebende Esther Bejarano porträtiert, die im Mädchen-Orchester von Auschwitz spielte. „Es sind Menschen, die so viel zu sagen haben“, meint Heinemann. Ihre Foto-Termine sind oft bewegend. Alte Menschen, bei denen sich das Leben in ihren Gesichtern widerspiegelt, lassen sie nicht los.

Sie will deren Geschichten hören, geht auf Menschen zu. Wie an einem Wochenende 2016, als sie durch Neu-Olvenstedt spazierte und eine achtköpfige Familie aus Syrien ansprach. Für ihr 365-Tage-Projekt ein Moment, der festgehalten werden sollte. Der Junge Manschouk und das Mädchen Juana blickten mit sehr unterschiedlichen Gesichtsausdrücken in ihre Kamera. Jetzt sind die beiden Porträts der Flüchtlingskinder im Format 60mal 80 entwickelt. Das ist Ausstellungsgröße.

Plant sie eine Ausstellung zu diesem Projekt? Noch nicht, sagt Heinemann. Sie müsse vor allem eine Auswahl treffen, um das eine Jahr auch entsprechend abzubilden. Sie könne ja nicht 365 Bilder hängen.

Noch wird aufgearbeitet, die Masse an Fotografien sortiert, nach Qualität, nach Datum. Es wird noch ein wenig Zeit dauern, um das zeigen zu können, was 2016 an Heinemann’scher Fotokunst entstanden ist. Vielleicht gibt es eine Ausstellung im nächsten Jahr, wenn sie 60 ist.