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Fotografie Menschenbilder gegen die offizielle Kunst

Die deutsche Jahrhundertfotografin Evelyn Richter ist vor wenigen Wochen 90 Jahre alt geworden. Dresden würdigt die DDR-Künstlerin.

Von Thomas Klatt 08.04.2020, 23:01

Dresden l Die „Ausgezeichnete“ gehörte in den 70er Jahren zu den kontrovers diskutierten Kunstwerken in der DDR. Eine Frau, offensichtlich eine Arbeiterin, sitzt vor einem kleinen Blumenstrauß, sie rührt ihn nicht an. Erschöpft „blickt“ sie nach innen, ihre Sorgen sind nur zu erahnen. Die frohe Sichtweise auf die lichte Zukunft des Sozialismus zeigt dieses Bild nicht.

Der Maler Wolfgang Mattheuer entsprach mit seinem Bild kaum der offiziellen Kunstauffassung. Verboten wurde es nicht, wenn auch zuweilen, wie bei anderen sperrigen Kunstwerken, Sätze wie „Unsere Menschen sind nicht so“ deutlich hörbar wurden.

Die Fotografin Evelyn Richter hat dieses Motiv Jahre später zu einer Fotografie verdichtet. Ihr Bild stammt aus einer Werkgruppe, in der sie nicht das Kunstwerk, sondern den Museumsbesucher in den Mittelpunkt rückt. Dabei entstand eine Reihe von Arbeiten, die wiederum Menschen in verschiedenen Haltungen zeigen – interessiert, gleichgültig oder gar euphorisch. Die Frau, die die „Ausgezeichnete“ betrachtet, ist offenbar nicht sonderlich begeistert.

Menschenbilder sind von Beginn an Hauptthema von Evelyn Richter, die 90-jährig in Dresden in einem Pflegeheim lebt. Das Albertinum und das Kupferstich-Kabinett sowie der Kunstfonds der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden widmen einer der wesentlichen deutschen Fotografinnen eine Sonderausstellung.

Der Werdegang von Evelyn Richter ist bestimmt von den Erfahrungen dreier Gesellschaftssysteme: der Kindheit im Nationalsozialismus, den Restriktionen der frühen DDR-Kulturpolitik und den Jahren nach 1990, in denen sie ihre Kunst entfaltet – durch Professuren, Lehraufträge, Vorträge und Reisen: Es geht nach Rom, London, Rumänien und in die USA. Doch bereits in den 80er Jahren erfährt ihr Werk in der DDR späte Anerkennung. 1989 erhält sie den Kunstpreis des Landes.

Geboren wird Evelyn Richter 1930 in Bautzen, die Schule besucht sie bei der Brüdergemeine in Kleinwelka und Niesky. Von 1953 bis 1955 studiert sie an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig. Dort gerät sie in den Formalismus-Streit, in dessen Folge von DDR-Künstlern eine Abkehr vom westlichen Kunstbetrieb verlangt wurde. Richters Fotografien sprechen die Sprache der Avantgarde der 20er Jahre, sie erinnern zuweilen an die vorstalinistische Ästhetik der Russen wie Alexander Rodtschenko und El Lissitzky. Sie arbeitet mit Schatten, ungewöhnlichen Perspektiven und bis in die 90er-Jahre hinein fast immer in Schwarz-Weiß. Und stets bleibt das Bild im Originalformat. Ausschnitte sind tabu. Nach der zwangsweisen Exmatrikulation arbeitet Richter ab 1955 als Theaterfotografin, nimmt Aufträge aus der Industrie an und gestaltet Messen. Und fotografiert leidenschaftlich weiter. Später wird sie sagen, sie habe viel „für die Kiste gearbeitet“.

Das Dresdner Albertinum, das wie viele Museen Deutschlands aus bekannten Gründen bis zum 19. April schließt, zeigt noch bis zum 3. Mai einen Ausschnitt aus ihrem opulenten Werk. Porträts wie die von Günter Kunert, Hans Werner Henze und Otto Dix, allesamt aus den frühen 60er Jahren, sind darunter. Ihr Interesse gilt bald daraufhin dem Osten, die Menschen in der Sowjetunion interessieren sie. Mehrmals besucht sie das Riesenland. Sie porträtiert David Oistrach, einen der bekanntesten Geiger seiner Zeit. Zehn Jahre lang sei sie ihm immer wieder in Abständen nahegekommen, weiß Björn Egging, Konservator im Kupferstichkabinett.

Im Jahr 1980 fotografiert sie die Regisseurin Lilja Brik, die Muse des Revolutionsdichters Wladimir Majakowski. Mit ihm und ihrem Mann Ossip führt Lilja in der frühen Sowjetunion eine offene Dreiecksbeziehung.

Das Dokumentarische ist Evelyn Richter immer wichtiger als das Schöne. Aber sie weiß auch, dass das Dokumentarische nicht immer spontan ist. Dafür kann sie warten auf den richtigen Moment, der das Authentische birgt. In ihren wenigen Selbstporträts nimmt sie sich zurück. Man nimmt sie kaum wahr im Bulgakow-Museum in Moskau zwischen den Exponaten. Einmal stellt sie sich per Spiegel zu den Musikern des Leipziger Gewandhausorchesters – als Gleiche unter Gleichen. Künstlerische Nähe sucht sie bei ihrem amerikanischen Kollegen Robert Franck, der in seiner Serie „The Americans“ den US-Alltag der 50er Jahre abbildet. Bis zum Ende 2019 war Franck mit seiner Serie bei C/O Berlin zu sehen. Mehrere Fotobücher entstehen, darunter eines mit Arno Fischer und Ursula Arnold, ihrer Kommilitonin aus Leipzig („Gehaltene Zeit“).

Die Schau im Dresdner Albertinum ist mit 40 Werken nicht sehr groß, sie zeigt jedoch wesentliche Teile ihres Schaffens. Von den Ausstellungsräumen blickt der Betrachter hinunter in den Lichthof des Hauses. Der Betrachter spürt den Atem der Kunstgeschichte, die hier einen großen Bogen schlägt von Caspar David Friedrich über Otto Dix, Max Slevogt, Gerhard Richter bis hin zu: Evelyn Richter.

Die Ausstellung im Albertinum Dresden, Brühlsche Terrasse, ist bis 3. Mai geplant, derzeit aber geschlossen. Nähere Infos unter https://albertinum.skd.museum