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Kinostart Filmgedicht mit Hamlet und Esel

Die Berliner Regisseurin Angela Schanelec bringt eine rätselhafte Familiengeschichte ins Kino. Auf der Berlinale war der Film erfolgreich.

14.08.2019, 23:01

Berlin (dpa) l Um ein Gefühl für Angela Schanelecs neuen Film zu bekommen, kann man ein Experiment versuchen. Man setzt sich hin, stellt die Stoppuhr und wartet, bis 37 Sekunden vorbei sind. Klingt nicht viel, kann sich aber wie eine Ewigkeit anfühlen. Im Film „Ich war zuhause, aber ...“ dauert eine der ersten Szenen genauso lange – darin beißt ein Hund auf einem Kadaver herum.

Manche Zuschauer lieben das an Schanelecs Filmen: Dass sie die Kamera kaum bewegt und dem Publikum eine Art Gemälde zeigt. Andere Besucher wollen gerne den Kinosaal verlassen und fragten sich auch während der Berlinale, was das Ganze soll. Kaum ein Wettbewerbsfilm rief in diesem Jahr so unterschiedliche Reaktionen auf dem Festival hervor.

„Ich war zuhause, aber ...“ beginnt mit einem Rätsel. Ein Junge (Jakob Lasalle) taucht in der Morgendämmerung an seiner Schule auf. Es sieht so aus, als sei er mehrere Tage vermisst worden. Seine Kleidung ist dreckig. Die alleinerziehende Mutter Astrid (Maren Eggert) stürzt in die Schule und hängt sich an sein Bein. Beide sprechen kein Wort.

Man erwarte, dass die Mutter frage, wo der Sohn gewesen sei. „Aber dass es manchmal nicht möglich ist, eine Frage zu stellen, das ist ganz normal“, sagte die Berliner Regisseurin Schanelec in einem Interview. Normal wirkt kaum etwas in ihrem Film. Die Menschen sprechen wie in einem Theaterstück. Ein Esel steht in einem Stall und guckt aus dem Fenster, Kinder üben Szenen aus Shakespeares „Hamlet“.

Aber wie hängt das alles zusammen? Welche Botschaft steckt dahinter? „Ich werde das ganz bestimmt nicht interpretieren“, sagte die 57-Jährige auf dem Festival. Für die Jurymitglieder unter Vorsitz von Oscar-Preisträgerin Juliette Binoche war das dann auch nicht nötig – sie verliehen Schanelec einen Silbernen Bären für die beste Regie.

Schanelecs Film erzählt auch etwas über den Umgang mit einem Verlust. Im Laufe des Films erfährt man, dass der Vater der Familie vor einer Weile gestorben ist. Auch Schanelecs Mann, der Theaterregisseur Jürgen Gosch, starb 2009. Ihren Filmtitel hat sie angelehnt an ein Werk des Japaners Yasujiro Ozu: „Ich wurde geboren, aber“. In Nebenrollen treten Franz Rogwoski und Lilith Stangenberg auf.

Dem Publikum jedenfalls verlangt der Film einiges ab. Schanelec reduziert Dialoge aufs Nötigste, es gibt keinen Smalltalk und keine „Ähms“. Vieles im Film wirkt, als wäre es nicht von dieser Welt. Die Regisseurin gilt mit ihren Filmen wie „Orly“ und „Der traumhafte Weg“ als Vertreterin der sogenannten Berliner Schule, einer Stilrichtung, die sich seit den 1990ern entwickelt hat.

Schanelec bringt den Mut auf, ganz eigene Filme zu machen, die meist nicht die Massen ins Kino locken. Sie bricht mit unseren Sehgewohnheiten. Dabei entstehen bezaubernde Bilder – etwa wenn ein Rebhuhn langsam über ein Grab tappt. Inhaltlich aber muss man Lust am Rätseln und Nachdenken haben. Wenn mitten im Film ein Dialog über die Kunst beginnt, dann merkt man als Zuschauer irgendwann: In diesem Film soll nichts echt wirken – Schanelec führt einem vor Augen, dass Filme nie das wahre Leben sind.