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Von Martin Meißner Längerer Atem

28.10.2010, 04:13

Was ist besser, Gestank oder kein Gestank? Das Vorhandensein oder das Fehlen von einem üblen Geruch?

Auf diese absurde Fragestellung wurde ich auf einer Familienfeier gebracht. Vor der ich niemals glaubte, welch ungeahnte Sprengkraft so etwas entwickeln kann. Eine ganze Familie zerstört und zwei friedliche Dörfer für immer entzweit.

Wie es das Unglück will, kam der Gast Ottmar aus K und Herbert aus M. Das heißt, nur Ottmar kam, da Herbert der Gastgeber war. Nun muss man wissen, dass die Gemüter in K und in M neuerdings immer aufgewühlter werden. Angriffen auf ihre beschauliche altmärkische Umwelt ausgesetzt sind – Thema Gestank.

In K ist Geruch vorhanden oder würde es bald sein, wenn alles der Planung gemäß verläuft. Dann entsteht dort eine Mastanlage für Schweine. Eine Ansammlung von Tieren, welche die Einwohnerzahl der Kreisstadt bei weitem übersteigt. Mit der entsprechenden Emission. Mit dem Ergebnis, dass keiner mehr ein Fenster öffnen kann. Aber man auch im Hause noch glaubt, in jedem Zimmer läge ein Schwein.

Dass deshalb die Leute rebellieren, ist klar. Da nützt es gar nichts, das Freibad nicht dichtzumachen, wie es eigentlich schon beschlossen war. Da niemand im Freien baden will, wenn die Luft nach Tausenden von Schweinen riecht.

Mehr noch als über den Gestank ärgern sich die Leute, dass man die Schuldigen nicht schnappen kann. Wer der Bürgermeister ist, weiß nach der Gebietsreform keiner mehr, falls man überhaupt noch einen hat. Und der Besitzer, der Investor, wie solch ein Schweinebauer heute heißt, in seiner Villa an der geruchsfreien Nordsee lebt.

Der Streit auf der Feier entfachte sich nun daran, dass Herbert den verrückten Gedanken entwickelte, dass Gestank besser wäre als keiner. Dass sich die Leute aus K mal schön freuen sollten und dankbar sein. Im Gegensatz zu den Bürgern aus M, denen es viel übler ergeht. Denen ein übermächtiger Energieriese nach dem Leben trachtet. In der Lausitz CO2, anstatt es wie bisher in die Luft zu blasen, flüssig macht und in Tanklastern nach M kutschiert. Unter die Erde pumpt. Wo es hin und her wabert. Sich dabei in Gas zurückverwandelt und langsam nach oben kriecht. Heimlich. Und das macht die Sache so unangenehm – völlig ohne Geruch. Nachzuweisen nur an verendeten Lebewesen, die es dann besonders in Senken und tiefer gelegenen Teilen des Dorfes gibt. In Geländevertiefungen, wo man die Wohnstatt des Konzernchefs so vergeblich sucht wie das Haus des Schweinebarons bei den Viehställen in K.

Dass sich das sowieso brisante Thema auf der Familienfeier noch einmal zuspitzte, lag an Lissy, die ein etwas loses Mundwerk besitzt und ernsten Problemen gern eine lustige Seite abgewinnt. Bei dem Thema Schwein sich theatralisch die Nase zuhielt und den Teller mit dem Hühnerfrikassee von sich schob. Aber in Sachen CO2 –Verpressung dann doch übertrieb und sich mit beiden Händen an die Gurgel fasste. Ersticken simulierend. Und dann von Ottmar zu Herbert sehend und wieder zurück den Satz setzte: "Mal sehen, wer den längeren Atem hat."

Die Familienfeier bei Herbert dauerte übrigens noch so lange, wie einer braucht, bis er seinen Autoschlüssel findet.

Martin Meißner ist Schriftsteller in Sachsen-Anhalt.