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Für ihren Roman über eine Magdeburger Kranfahrerin recherchiert Annett Gröschner auch im ehemaligen Thälmannwerk Eine Stadt im Rhythmus der Industrie

Von Kathrin Singer 28.04.2014, 01:36

Magdeburg l Die Welt von oben sehen, den Überblick haben. Diese buchstäbliche Möglichkeit hatten zu DDR-Zeiten vor allem Frauen. Heute eher ungewöhnlich, war Kranfahrerin damals ein durchaus typischer Frauenberuf. Die in Magdeburg geborene Schriftstellerin Annett Gröschner widmet ihren dritten Roman einer solchen Arbeiterin in der Schwerindustrie und zeichnet damit ein Stück Industriegeschichte im Osten nach.

Wie wohl alle Magdeburger musste auch Annett Gröschner im Unterrichtsfach PA (Produktive Arbeit) im Thälmannwerk arbeiten und Gewinde in Verseilmaschinen schneiden. Den typischen Geruch von Metallspänen und Maschinenöl hat sie noch heute in der Nase, sobald sie das Technikmuseum besucht und Erinnerungen an Magdeburg im Dreischichtsystem hochkommen. "Die Stadt bewegte sich im Rhythmus der Industrie. Noch nach der Wende haben die Wecker morgens geklingelt, obwohl gar keiner mehr aus dem Haus gegangen ist." Wie sich ein solcher Umbruch anfühlt, interessiert Annett Gröschner vor allem erzählerisch. "Schwebende Lasten" heißt der Roman, der im kommenden Jahr erscheint. Im Landesarchiv recherchiert Annett Gröschner derzeit vor allem die Geschichte des Magdeburger Grusonwerkes, aus denen 1951 das "Ernst-Thälmann-Werk" wurde.

Die Geschichte der Industrialisierung und anschließender Deindustrialisierung beschränkt sich zwar nicht nur auf Ostdeutschland, wird aber durch die Protagonistin, eine Kranfahrerin, konkret nach Magdeburg verortet. Gröschner lässt die Geschichte rückblickend von den fünf Töchtern der Kranfahrerin erzählen, von denen jede eine andere Sicht auf das Leben der Mutter in der DDR hat - einfache Wahrheiten sind also nicht zu erwarten. Ausgangspunkt ist das Hochwasser des vergangenen Frühjahrs als ein Zeitpunkt für die Töchter, Dinge grundsätzlich infrage zu stellen. "Von einer Minute auf die andere kann alles, was man sich aufgebaut hat, weggeschwemmt werden", sagte Gröschner, "die Töchter erinnern sich an Momente der Kindheit nach dem Krieg, an denen ebenfalls alles verloren gegangen war."

Neben den Archiv-Recherchen führte die Autorin Interviews mit ehemaligen Kranfahrerinnen. Auch Begegnungen mit ehemaligen Thälmannwerkern, die bei Führungen durch das Gelände von ihren Erinnerungen erzählen, sind ergiebige Fundgruben. Zusammen mit ihrer Schwester Nadja begleitet Annett Gröschner bei der Führung "Unter schwebenden Lasten lauert der Tod" Besucher rund um das ehemalige Gelände des Werkes und erzählt die Geschichte des auch als Rüstungsbetrieb immer größer gewordenen Grusonwerkes, über die Zeit der DDR im Thälmannwerk bis hin zum Ende. An den letzten Stationen im Technikmuseum liest die Autorin aus dem neuen Manuskript. "Es ist eine Art ,Schaufenster`, auch um zu testen, ob der Text funktioniert."

"Schwebende Lasten" ist der zweite Magdeburg-Roman der Autorin. Die Hauptfigur aus dem ersten Roman "Moskauer Eis", Annja Kobe, die ihren tiefgefrorenen Vater auffindet und in ihre Familiengeschichte eintaucht, begegnet dem Leser nicht nur in ihrem zweiten, in Berlin spielenden Werk, "Walpurgistag" wieder, sondern wird für "Schwebende Lasten" wieder nach Magdeburg zurückkehren.

"Wenn ich an einem Roman arbeite, werden die Personen für mich nach und nach immer realer, ich lebe mit denen mit", sagt Annett Gröschner, deren Wunsch es ist, auch einmal auf einem Kran mitzufahren. "Ich würde gern eine Ahnung davon bekommen, wie sich das anfühlt ..."

"Unter schwebenden Lasten lauert der Tod" - Literarische Führung, Donnerstag, 2. Mai, 19 Uhr. Karten: www.feuerwachemd.de, Tel. 0391/602809