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Magdeburger Schauspielhaus Weitgehender Verzicht auf mimische und gestische Ereignisse

Von Gisela Begrich 29.09.2014, 01:16

Magdeburg l Im Stück "Iphigenie auf Tauris" bringt Johann Wolfgang Goethe nahezu beispielhaft Gedanken der deutschen Klassik zum Ausdruck: Streben nach Harmonie, Humanität und Toleranz. Und: Das Geschehen vollzieht sich wesentlich im seelischen Inneren der Figuren. Die Inszenierung von Alia Luque - Premiere war am Sonnabend - folgt diesem Anspruch mit hoher Konsequenz. Und das ist kein Minus.

Das Studio im Schauspielhaus beherrscht ein Rechteck, das die Hälfte des Raumes einnimmt. Im vorderen Drittel des Rechtsecks erhebt sich eine hohe Säule, auf der Iphigenie, die Priesterin der Diana, während der gesamten Aufführung agiert.

Das ist ein prägnantes Bild für deren Macht und für deren unfreiwilliges Verweilen im Reich des Thoas. Sie ist fixiert, gefangen, wohl gelitten und dennoch unfrei. Zumal sich ein Graben dem Rechteck anschließt, den ein zweites sehr schmales Viereck umgibt, die gefährliche Küste.

Meinungen von vielen Seiten aushalten

Auf der anderen verbleibenden Hälfte des Raumes sitzen an vier Seiten die Zuschauer: wenn man die Idee der Toleranz abhandelt, muss man Meinungen von vielen Seiten aushalten. Diese faszinierende Sphäre ersann Bühnenbildner Christoph Rufer. Wenn das Spiel beginnt, liegt der Raum nahezu in Dunkelheit.

In der partiellen Finsternis, die sich erst gegen Ende des Spiels verhalten aufhellt, skandieren alle Akteure Texte von Aischylos, Thomas Brasch, Euripides, Heiner Müller, Einar Schleef, Soeren Voima und Christa Wolf. Das wiederholt sich am Ende. Damit schaffen sie für den Ideengehalt des Stücks einen Brückenschlag zu Geschichte und Gegenwart.

Die chorische Rede leisten die vier Männer und die eine Frau mit einer großen Sprachkultur, die den ganzen Abend prägt. Das Ensemble spielt die Fassung von 1786, die in fünfhebigen Jamben geschrieben ist. Dieser komplexe Satzbau, der die Gedanken der Figuren wunderbar strukturiert, fordert den Darstellern höchste Konzentration ab und das meistern Lena Sophie Vix als Iphigenie, Philipp Quest als König Thoas, Ralph Martin als Diener des Herrschers (Arkas), Raphael Gehrmann als Pylades und Ralph Oferkuch als Orest vorzüglich.

Da Unterschiede in der Bewertung zu machen, grenzt eher an Beckmesserei, als dass eine Einschätzung gewagt werden sollte. Es ist eine geschlossene Ensemble-Leistung.

Die Aufführung kommt mit einem gewaltigen Vertrauen in das gesprochene Wort daher. Auf mimische und gestische Ereignisse wird weitgehend verzichtet. Erst als Orest das Maß des Denkens verliert und halluziniert, darf Ralph Opferkuch aus dem darstellerischen Rahmen ausbrechen. Dieser schauspielerische Minimalismus setzt auf den Inhalt, auf den Geist und fordert das Mitdenken auf eine Art, wie es heutige Inszenierungen selten riskieren.

Keine billigen Provokationen

Dieses Stilmittel (oder dieser Mut) gibt dem Abend ein Alleinstellungsmerkmal, das man nur mit dem Wort großartig quittieren kann. Die Regisseurin Alia Luque bietet eine Herausforderung, die alle billigen Provokationen neuzeitlichen Theaters unterläuft.

Mit unaufdringlichen Zugaben vertieft das Regieteam die Sicht auf das Geschehen wie nebenher: Raphael Gehrmann als Pylades und Orest tragen hochhackige Damenschuhe in der Gefangenschaft, mit denen sie auf dem äußeren Rand des Vierecks vorsichtig balancieren, Gratwanderung in der Unfreiheit: Goethe thematisiert auch die Situation der Frau, die Eingeschränktheit ihrer Selbstverwirklichung.

Und Philipp Quest als Thoas und Ralph Martin als Arkas sind in Kleider (Kostüme Christoph Rufer) gehüllt, wie sie gemeinhin den Barbaren zugeordnet werden und verkörpern dennoch ethische Haltungen, die denen der Griechen ( Orest, Pylades), die über auffällig feinere Moden verfügen, mehr als ebenbürtig sind.

Als die Lichter erlöschen, brandet langer Beifall auf - Premierenbeifall! Diese außergewöhnliche Inszenierung verliert aber nicht an Wert, wenn sie sich im Alltag im Kampf um das Publikum behaupten muss.

Solange noch die deutsche Theaterlandschaft besteht, muss das Theater den Mut haben, mehr zu sein, als sich wohlfeil dort anzubiedern, wo Theater keine Zukunft zu erwarten hat.