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Nordharzer Städtebundtheater Turbulent und nachdenklich

Erneut gelang dem Nordharzer Städtebundtheater mit "Cabaret" erregendes Musiktheater. Die sensible Arbeit, gewidmet dem kurz vor der Premiere verstorbenen Sänger Ingo Wasikowski, stammt von dem Wiener Regisseur Wolfgang Dosch. Am Wochenende war Premiere.

Von Hans Walter 03.11.2014, 01:16

Quedlinburg l Dosch ist ein großer Spezialist fürs Heitere. Zugleich macht er unmissverständlich und konsequent seine Haltung gegen die Kulturbarbarei der Nazis deutlich. Ábrahám, Benatzky, Kálmán, Stolz, Straus und Weill waren wie Eisler und Schönberg jüdischer Abstammung. Ihre Werke kamen auf den Index, ihre Schöpfer wurden in die Emigration getrieben. Wehret allen neuen Anfängen von Rassismus und Intoleranz - das ist das Credo Doschs.

Aus diesem gewichtigen Grund also "Cabaret"-Premiere am Freitag in Quedlinburg. Kurz vor dem Erinnern an die Reichspogromnacht am 9. November 1938, als die Synagogen in Deutschland brannten. Gespielt wurde das Musical von John Kander in der Fassung von Chris Walker, die die Handlung auf 1929/30 im Berlin der elektrisierenden "roaring twenties" vorverlegte.

Dosch zeigt das Schlangen-Ei. Durch die dünnen Häute ist das fast völlig entwickelte Reptil deutlich zu erkennen. Er kennt seinen Shakespeare und Brecht.

Ihm standen ausgezeichnete Sänger-Darsteller, der Chor und das Ballett zur Verfügung. Die assoziationsoffene Ausstattung schuf Odilia Baldszun. Die Bühne minimalistisch mit riesigen Buchstaben "CABARET", die zu Bett, Tisch und Bank in Fräulein Schneiders Pension und zum Podest des Kit-Kat-Tingeltangels werden; an der Rampe eine farbige Lichterkette. Schneller Umbau durch die von Gabriella Gilardi choreografierten Glitzer-Tänzer und Transen.

Die Kostüme erzählen auf eigene Weise die Geschichte mit. Der englischen Sängerin Sally Bowles (Katja Uhlig) und des amerikanischen Schriftstellers Clifford Bradshaw (Lutz Standop) und ihrer großen Liebe. Des alternden jüdischen Obsthändlers Schultz (Norbert Zilz) und seiner unendlich zarten Liebe zum geduckten Wesen Fräulein Schneider (Bettina Pierags). Des Geschäftsmannes Ernst Ludwig (Klaus-Uwe Rein), der zum Devisenschmuggler wird und den smarten Anzug gegen Braunhemd und Koppel der Nazipartei tauscht.

Kein Wunder geschieht. Dosch inszeniert mit Wissen um die Geschichte. Mit großer Liebe zu seinen charaktervollen Sängern. Zum Beispiel Tobias Amadeus Schöner als Conférencier. Ein massiger Mann - ganz anders als der kleinwüchsige Joel Grey im Film. Bei seinem Bekenntnis-Song "Säht ihr sie mit meinen Augen" geht es nicht um einen Gorilla, sondern um den "Miesnick" Schultz. Spöttisch zu Beginn mit "Willkommen, Bienvenue, Welcome", am Ende demaskiert und derangiert. Da haben schon längst die Nationalsozialisten im Kit-Kat-Club das Sagen. Der Mob bereitet sich auf die Machtübernahme vor. In allen Bereichen.

Es sind bewegende Szenen - wie auch das Ende der Beziehung von Schultz/Schneider. Zum Abschied verschenkt Norbert Zilz an Bettina Pierags eine Orange. Sie legt die Frucht in ihren Schoß, auf ihr graues Kleid. Das wirkt so trostlos wie ein Bild von Egon Schiele, gemalt im Gefängnis. Kann sein, dass es der Regisseur kannte. "Wie geht`s weiter?", singt die Pierags. Irgendwie. Sie will durchkommen.

Oder Sallys trotzige Trauer um ihr abgetriebenes Baby und Cliffs Reaktion. Eine ungeheuer intensive Szene zwischen dem von braunen Schlägern zu Boden geschlagen Lutz Standop und Katja Uhlig. Beide Gäste sind ausgewiesene Musical-Darsteller. Ein großartiges Zusammenspiel, wobei er innerhalb einer Woche die Partie übernehmen musste.

Florian Kießling zelebriert mit dem Orchesterchen die Musik im Geist der 20er Jahre. Es klingt wie Kurt Weill. Also mitreißend! Neun Minuten langer Applaus für ein ebenso turbulentes wie nachdenkenswertes Theaterereignis.

Nächste Vorstellungen: 9. und 15. November in Halberstadt, 29. November in Quedlinburg