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8. Telemann-Wettbewerb Ein musikalischer Menschheitskrimi

Von Caroline Vongries 16.03.2015, 01:27

Magdeburg l Abendleuchten - dieses Motiv erscheint für das Konzert im vollbesetzten Magdeburger Kloster Unser Lieben Frauen am Sonnabend passend. Bei Telemanns Markuspassion 1755, mit dem hier im Rahmen des 8. Telemann-Wettbewerbs zugleich der Biederitzer Musiksommer eingeläutet wird, handelt es sich um ein Spätwerk. Der damals 75-jährige Magdeburger Meister zündet darin musikalische Leuchtfeuer - über den üblichen Rahmen der Passionsgeschichte(n) von Schmerz und Scheitern hinaus.

Bereits zum zweiten Mal widmet sich Michael Scholl gemeinsam mit seiner Kantorei den treuen Begleitern der Potsdamer Cammermusik und fünf Solisten dem selten aufgeführten Oratorium. In einem innigen Miteinander erwecken die Beteiligten den grandiosen Bilderreichtum dieser Musik zum Leben, erzählen das Geschehen als Menschheitskrimi in 13 Szenen fesselnd und ergreifend.

Assoziationen zur Gegenwart
Telemanns Passion beginnt aus übergeordneter Perspektive mit Lobespsalm und Hallelujah. Selbst im dunkelsten Moment der folgenden Berichterstattung über Verrat, Feigheit, Gefangenschaft, Folter, Tod - ausgespart bleibt kaum etwas, was die menschliche Existenz an Abgründen zu bieten hat - ist ein Funken dieses anfänglichen Zukunftslichts enthalten.

Zunächst wird das Versagen der Menschen aus dem nächsten Umfeld Jesu gezeigt, der Jünger. Gerade da, wo sie gefragt sind, scheitern sie kläglich. Am Ölberg schlafen sie bekanntlich ein, als Jesus mit Todesängsten ringt, verraten und verleugnen ihn. Wie weit die Vorstellungen, die der Mensch von sich selbst hat, und sein reales Verhalten auseinanderklaffen können, wird plastisch vorgeführt.

Bei Telemann kommen keine überirdischen Wesen zum rettenden Einsatz. Gefragt ist Selbsterkenntnis, wie sie durch drei allegorische Figuren angeregt wird, die von Heidi Maria Taubert als Glaube, Grit Wagner als Andacht (beide Sopran), und Matthias Vieweg als Treue (Bass) überzeugend gestaltet werden.

Durch das neutestamentliche Geschehen führt die Erzählerstimme des Evangelisten, dessen untergründiges Beteiligtsein von Michael Zabanoff (Tenor) sensibel ausbalanciert wird. Die Bandbreite der Jesusfigur, die von entschiedener Zuversicht bis hin zu schmervoller Verlassenheit reicht, ist bei Florian Götz (Bariton) bestens aufgehoben. Dessen Eindringlichkeit steigert sich im klanglichen Kontrast zu den Chorsätzen, die das Geschehen zunehmend dramatisieren.

Der Chor firmiert als Mob, der angestachelt von korrupten Drahtziehern Menschenwürde und Menschenleben mit Füßen tritt. Hier sind Assoziationen zur Gegenwart erlaubt: zu ultimativen Hasspredigten jedweder Couleur ebenso wie zu sogenannten demonstrativen Stadtspaziergängen. Das ihr abverlangte enorme Spektrum an emotionalen und musikalischen Stimmungen, Rhythmen bewältigen Kantorei und Orchester durchweg bravourös.

Am Schluss eine Reihe kostbarer Momente
Am Schluss bleiben eine Reihe kostbarer Momente: Den Tod Jesu legen Götz und Zabanoff zwischen jähem Schmerz und ergreifender Brüchigkeit an. Bevor der Mensch(ensohn) stirbt, erstirbt sein Wort. Demgegenüber spannt Taubert als Glaubensfigur mit ihrem unprätentiös wirkenden Sopran eine Brücke der Zuversicht über sich auftuende Leerstellen und Abgründe. Mit einer mitunter sperrigen Geradlinigkeit stattet Vieweg seine Treuefigur aus.

In jedem Moment agiert ein eingespieltes Team, dessen Beteiligte sich im Dienst der Sache als gleichwertig verstehen. Michael Scholls gleichermaßen klares und feinsinniges Dirigat behält stets das Ganze und den Einzelnen im Blick. Zum Schluss überrascht Telemanns Komposition. Nach dem letzten abrupt endenden Chorsatz braucht es einen gedehnten Moment der Stille, bis das Publikum realisiert, dass es wieder in der Gegenwart angekommen ist. Dann fällt der hochverdiente Beifall kräftig aus.