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Literatur Totenmesse in der Taiga

„Taiga“ versammelt 23 Erzählungen des russischen Autors Sergej Maximow. Sie handeln vom Leidensweg unter Stalin.

Von Grit Warnat 14.09.2020, 01:01

Halle l Der zum Scheitern verurteilte Fluchtversuch aus dem Gulag kam dem Ich-Erzähler teuer zu stehen: Sechs Monate Strafisolator. Es ging zum Streckenpunkt 160, über den sich Häftlinge schlimme Dinge erzählt haben.

Taiga, nichts als Taiga. Dort, zwischen kümmerlichen Kiefern und graugrünem Moos standen die Zelte, um die herum graue, verdreckte Schattenmenschen schlichen. Wer krauchen konnte, wurde für den Bau der Eisenbahnstecke gebraucht.

Sergej Maximows Erzählungen sind autobiografisch geprägt. Er selbst wurde im April 1936 verhaftet, in der berüchtigten Lubjanka, dem Moskauer Gefängnis und Hauptquartier des sowjetischen Geheimdienstes, verhört und gefoltert. Das Urteil: Fünf Jahre Lagerhaft. Verurteilt nach Paragraf 58 des sowjetischen Strafgesetzbuches. Da ging es mit blanker Anschuldigung und ohne Beweise um angebliche konterrevolutionäre Tätigkeit und Agitation.

Wie Übersetzerin Christine Hengevoß im Abspann über Leben und Werk des kaum bekannten Sergej Maximow (1916-1967) schreibt, war er in Lagern des „Sewsheldorlag“, ein Lagersystem, dessen Insassen beim Eisenbahn- und Brückanbau arbeiteten. Maximow hat in seinen Erzählungen Erlebtes mit dokumentarischem Charakter festgehalten. Auch seinen Fluchtversuch, den er unternommen hatte und den er in seiner Erzählung „Die Flucht“ schildert.

Was er für die Nachwelt festgehalten hat, sind die Schrecken des Terrors von Diktator Stalin, dessen Säuberungssystem in den 1930er Jahren Hunderttausende zum Opfer fielen. Maximow schildert den Leidensweg so vieler damals Verurteilter: Verhaftung, Lubjanka, das Misstrauen durch den allgegenwärtigen Verrat, die körperlich zermürbende Arbeit im Gulag, die unmenschlichen Lagerbedingungen, Krankheiten, das Sterben. Jeden Tag, so schreibt Maximow, starben Lagerinsassen an Skorbut, Typhus, vor Hunger. Oder sie verstümmelten sich selbst, um das Leben zu retten und die Chance auf einen Lazarettaufenthalt zu erhalten. „Es musste nicht unbedingt eine Hand oder ein Fuß sein; man konnte sich zum Beispiel in den Bauch stechen. Das Bauchfell heilt schnell, es bleiben nur hässliche Narben“, schreibt der Autor in der Erzählung „Streckenpunkt 160“.

Er bringt dem Leser ein Lagerleben vor Augen, in dem nicht nur Kälte im Winter und Hitze im Sommer, Mücken, Läuse, Hunger die Kräfte aufzehrten. Der Autor war als Politischer den ungeschriebenen Lagergesetzen ausgeliefert, in denen man sich gegen Kriminelle und Verbrecher behaupten musste. Es sind erschütternde Einblicke ohne jede Larmoyanz.

Maximow hat die Jahre im Gulag überlebt. Er war 1949 mit seiner Frau nach Amerika übergesiedelt. Dort kämpfte er mit literarischen Misserfolgen und mit zunehmend gesundheitlichen Problemen. Für seine Werk „Die Odyssee eines Häftlings“, in der er bereits die Lagerhaft thematisierte, fand sich kein Verleger.

Maximows Schaffen, so schreibt Hengevoß, ist fast in Vergessenheit geraten, „obwohl er möglicherweise einer der ersten war, die überhaupt über den Gulag schrieben“. Bekannt ist vor allem Literaturnobelpreisträger Alexander Solschenizyn mit seinen literarischen Aufarbeitungen „Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch“ und seinem Großwerk „Archipel Gulag“. Während Solchenizyn Weltruhm erlangte, war Warlam Schalamow lange Zeit ein Unbekannter. Vor einigen Jahren sind seine Erzählungen aus Kolyma beim Verlag Matthes & Seitz erschienen.

Der Erzählband „Taiga“ erschien 2016 erstmals in Russland. Der Mitteldeutsche Verlag Halle hat ihn jetzt auf deutsch herausgebracht und rückt damit das sowjetische Gulag-System mit einer weiteren literarischen Stimme in den Fokus.

 

Sergej Maximows Buch "Taiga. Erzählungen aus dem Gulag", mit einem Nachwort von Andrej Ljubimow, Mitteldeutscher Verlag, umfasst 300 Seiten und kostet 20 Euro.