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Musiktheater Tanzen bis an die Grenzen

Vor ihrer Tournee haben die Alvin-Ailey-Tänzer ihre Choreographien akribisch einstudiert. Nun kommen sie auch nach Deutschland.

23.07.2017, 23:01

New York (dpa) l Wirklich zufrieden ist Matthew Rushing mit der ganzen Sache noch nicht. Der Probenleiter steht vor einem Dutzend Tänzer des Alvin Ailey Dance Theater und feilt an Feinheiten. „Wenn es passiert, ist es brillant. Wenn nicht, ist es nur Durchschnitt“, sagt Rushing. Auf glattem Boden vor langer Spiegelwand versuchen die Tänzer, die Choreographie bis ins kleinste Detail zur Perfektion zu bringen. Denn wenn sich dieser Wochen in Paris, Basel und fünf deutschen Städten der Vorhang hebt, muss jede Körperbewegung sitzen.

Splash, Smear, Scan, Pull – ein Laie kann bei den Begriffen der Gruppe nur ahnen, ob nun ein gebeugter Rücken, ein gestrecktes Bein auf Zehenspitzen oder kreisende Schultern gemeint sind. Worte aus dem klassischen Ballett wie Piqué und Plié fallen hier schon, aber eben durchmischt mit der englischen Terminologie des Modern Dance.

Bald 60 Jahre ist es her, dass eine Gruppe junger afroamerikanischer Tänzer unter Leitung von Alvin Ailey (1931–1989) in einem Gemeindezentrum an der 92nd Street in Manhattan auftrat. Der Kampf um Bürgerrechte war in vollem Gange, und nicht selten wurde schwarzen Tänzern (und Zuschauern) die Teilnahme an Aufführungen aus rassistischen Beweggründen verwehrt. Ailey gab ihnen eine Bühne und machte sich mit seiner Gruppe schon 1962 zur ersten Tour außerhalb der USA auf.

In Aileys choreographischem Vorzeigestück „Revelations“ leben diese Kräfte heute weiter. Er verband darin Elemente des Gospel, Spirituals und Lieder aus den Zeiten der Sklaverei. In dem Stück kommt eine Gruppe von Tänzern zusammen, um mit erhobener Faust den Widerstand anzukündigen. Unterdrückt und gedemütigt scheinen sie zu zerfallen, gleiten zu Boden, doch ziehen einander immer wieder in die Höhe. „Revelations“ erzählt die Geschichte vom menschlichen Zusammenhalt, sagt Rachel McLaren, die mit der Kompanie auf Tour geht.

„Man muss sich bis auf den Kern entblößen, um einige der Dinge zu tun, die wir als Tänzer tun“, sagt die 31-Jährige. Mit Schwimmen und Fitnesstraining bleibt sie in Form, außerdem meditiert sie, macht Yoga und achtet besonders vor Tourneen auf ihre Ernährung. Für die körperliche Fitness ist sie selbst verantwortlich, in den 40 Stunden Proben pro Woche ist dafür keine Zeit vorgesehen. „Wir sind jetzt Profis“, sagt die aus dem kanadischen Winnipeg stammende McLaren.

Besonders vor und bei Aufführungen stoßen die Tänzer an ihre Grenzen: Zwei bis fünf Stunden proben sie manchmal, bevor der Vorhang aufgeht. Da bleibt kaum Zeit für das Essen. „Es kann wirklich hart sein“, sagt McLaren. „Wenn ich nur eine Stunde zwischen tonnenweise Proben und dem Weg auf die Bühne habe, und ich muss mich schminken und meine Haare machen und mich beruhigen und mich an die Schritte erinnern – dann muss ich Zeit finden, zu essen. Ich muss Zeit finden, zu atmen.“

Umso beeindruckender ist bei all dieser Anspannung das Kunstwerk auf der Bühne, wie die Gala im Lincoln Center in New York Mitte Juni zeigte: Zur Musik von Ella Fitzgerald wirbeln Tänzer in Hemd und Krawatte spielerisch umher und übersetzen den improvisierten Scat-Gesang Fitzgeralds in Körperkunst. Im Spiritual „Wade in the Water“, das auch im geheimen Flucht-Netzwerk der Sklaven gesungen wurde, wiegen Tänzer sich in den Wellen und lassen sich treiben.

„Wir geben so viel von uns selbst, um diese Choreographie in etwas zu verwandeln, das echt und greifbar ist“, sagt McLaren. Ihr ist klar, dass sie mit 31 Jahren bereits am Höhepunkt ihrer Karriere angekommen ist. „Mein Körper ist mein Instrument. Er altert jeden Tag.“ Einige Tänzer im Alter von 18 oder 19 Jahren „wachen im Spagat auf“, während McLaren beim Aufstehen manchmal Schmerzen hat. Doch der harte Wettbewerb unter den Tänzern sei gesund. „Wir fordern uns heraus, und ich glaube, das ist gut.“

Ailey selbst, der sich dem künstlerischen Leiter Robert Battle zufolge „wie eine Katze“ bewegte, dürfte seine Tänzer ähnlich gefordert haben. Battle ist stolz, heute Aileys Posten zu füllen. Es sei wundervoll, den Tänzern eine Plattform zu geben und zu erleben, wie das Publikum nach einer Aufführung begeistert aufspringt. „Manchmal ist das Beste, was ich tun kann, aus dem Weg zu gehen und den Zauber geschehen zu lassen.“

Weitere Informationen und Tickets für die Aufführungen in Mannheim, Köln, Hamburg, München und Frankfurt gibt es im Internet.