Martha Argerich wird 70 Piano-Königin mit Lampenfieber
Für ihre Auftritte ist sie berühmt, für ihre Absagen berüchtigt: Martha Argerich hat sich oft dem Musikbetrieb widersetzt – und dennoch herrscht sie heute als unumstrittene Klavierlöwin.
Von Esteban Engel
Berlin (dpa). Als es wichtig wurde, verweigerte die kleine Martha den Gehorsam. Stundenlang hatte Mutter Juanita gewartet, bis sich Friedrich Gulda endlich herabließ, ihrer Tochter beim Klavierspiel zuzuhören. Gulda war zu Besuch in Buenos Aires und hatte vom Talent der jungen Martha Argerich gehört. Doch die Zwölfjährige lehnte ab. Es blieb nicht bei dieser einen Verweigerung – die Argentinierin, die an diesem Sonntag 70 Jahre alt wird, hat immer wieder gegen das Konzertleben rebelliert.
Es half alles nichts. Gulda entdeckte bei einem weiteren Besuch selbst das Talent der Klavierschülerin und lockte sie nach Wien. Mit Eltern und Geschwistern zog Martha nach Europa. Gulda wurde ihr Lehrer und rettete die burschikose Südamerikanerin vor den Zuchtmeistern daheim. Mit Drill und Disziplin hatten sie versucht, das begabte Mädchen zu zähmen.
Gulda eröffnete Argerich neue Horizonte, zeigte ihr den Witz von Haydn und Mozart, führte mit ihr lange Gespräche über Musik. "Für ihn hätte ich alles getan!", bekennt sie in einer neuen, an persönlichen Details reichen Biografie des Franzosen Olivier Bellamy ("Martha Argerich – Die Löwin am Klavier", Edition Elke Heidenreich bei C. Bertelsmann).
Sie sei in Gulda verliebt gewesen, berichtet eine Freundin. "Wahrscheinlich bist Du ein Hermaphrodit, Argerich", habe Gulda zu ihr gesagt. "Das Klavier ist ein hermaphroditisches Instrument", erwiderte die junge Martha lachend. Martha und das Piano – das war immer auch eine Zwitterbeziehung zwischen Verzweiflung und Liebe. Gulda flehte sie an, sich auf ihre außerordentlichen Fähigkeiten zu verlassen und ihr Potenzial nicht zu verschleudern.
Es war ein langsames Erwachen aus dem Leben eines Wunderkinds, das bis dahin rasant verlaufen war. Schon mit drei Jahren saß sie am Flügel, mit sieben konnte sie an einem Nachmittag Mozarts Klavierkonzert Nr. 20, Beethovens Nr. 1 und eine Bach-Suite spielen. 1957, da war sie 16, gewann sie den Busoni-Wettbewerb und – wie Mentor Gulda einige Jahre zuvor – den internationalen Wettbewerb in Genf. Wo immer sie spielte – das Publikum war vom dunkelhaarigen "Wunder Argerich" hingerissen.
Doch immer wieder verkroch sich Argerich auch. Einen Termin mit dem mächtigen EMI-Plattenboss Walter Legge, der Karajans Karriere beflügelt hatte, ließ sie platzen, einen Vertrag mit der Deutschen Grammophon lehnte sie zunächst ab. Erst drei Jahre später, als sie sich reif dafür fühlte, willigte sie ein. Dreimal spielte sie jedes Stück im Studio – den Rest überließ sie dem Tonmeister. Heute zählt jene Aufnahme aus Hannover zu Argerichs legendären Einspielungen.
Dann reiste sie nach New York, um Vladimir Horowitz vorzuspielen. Ihr Idol wollte sie nicht empfangen, erst Jahre später wird er sie als die Beste loben. Argerich blieb in Amerika, lernte dort den Komponisten Robert Chen kennen, mit dem sie die erste ihrer drei Töchter bekommt. Ein Jahr später kehrte sie nach Europa zurück und gewann mit 24 Jahren 1965 den Warschauer Chopin-Wettbewerb.
Jahre danach löst sie dort als Jurorin einen Skandal aus. Weil der von ihr bewunderte und eigenwillige Ivo Pogorelich gegen ihr Votum früh aus dem Wettbewerb ausscheidet, reist sie aus Protest ab.
Argerich misstraut dem Betrieb – und auch ihrem Ausnahmetalent. Ihre atemberaubende Schnelligkeit ist wohl auch eine Fluchtbewegung vor dem Lampenfieber. Doch wenige Pianisten haben etwa Chopin mit solcher Klarheit gespielt, so singend und ohne romantische Schnörkel wie sie.
Und dann immer wieder auch die Absagen, die Unstetigkeit in Marthas Leben – "ein Zickzackkurs zwischen sogenannter ¿Krise‘ und phantastischem Gelingen", wie der Kritiker Joachim Kaiser schrieb. Ihre Aufnahmen, vor allem aber ihre Auftritte, etwa mit Liszts Es-Dur-Konzert, sind legendär. "Es geht nicht nur um richtige Töne, es geht ums Leben", schreibt Kaiser.
Der Schweizer Dirigent Charles Dutoit versucht, Martha zu erden. Doch die Ehe, aus der die zweite Tochter hervorgeht, zerbricht nach fünf turbulenten Jahren. Martha kehrt zum Pianisten und Dirigenten Stephen Kovacevich zurück, mit dem sie zuvor eine langjährige Beziehung hatte, die dritte Tochter wird später geboren.
Anfang der 80er Jahre entscheidet sich Argerich, keine Solo-Auftritte mehr zu geben. Sie überlegt, wie sie gegen die "faulen Tricks" der Agenten und Plattenfirmen vorgehen kann. Aus dieser Utopie entstehen ihre Festivals im japanischen Beppu und in Lugano. Im Spiel mit Freunden fühlt sich Argerich aufgehoben.
Im Privatleben bleiben die Schicksalsschläge nicht aus. In wenigen Jahren sterben die Eltern, der Bruder und die beste Freundin. 1992 wird bei ihr Hautkrebs diagnostiziert. Martha kämpft.
Noch während der Rekonvaleszenz kehrt sie mit Gidon Kremer und ihrem langjährigen Cello-Begleiter Mischa Maisky auf die Bühne zurück. Und dann hat sie ihren triumphalen Auftritt in der Carnegie Hall im März 2000. An dem Abend, schrieb die "New York Times", habe Martha Argerich "weder Grenzen noch Ebenbürtige gekannt".