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Premiere „Sonnenaufgang“ im Hier und Jetzt

Palmetshofers Neufassung von Gerhard Hauptmanns erstem Theaterstück „Vor Sonnenaufgang" feierte im Magdeburger Schauspielhaus Premiere.

Von Gisela Begrich 12.01.2020, 23:01

Magdeburg l Seit etlichen Jahren geistert das Wort „Überschreibung“ durch die Theaterlandschaft. Damit ist gemeint, dass Regisseure einem vorliegenden Manuskript durch Kürzungen und Einfügungen, fernab der fixierten Handlung, einen neuen Sinn geben. Das tun auch Autoren. Palmetshofer gilt als einer, der mit diesem Verfahren erfolgreich Neues schuf. Sein „Sonnenaufgang“ spielt in der Jetztzeit. Von Hauptmann übernimmt er die wesentlichen Figuren und die Konfliktkonstellation. Die Personen sprechen eine heutige Sprache.

Bei Familie Krause scheint die Welt in Ordnung: Schwiegersohn Thomas Hoffmann leitet erfolgreich das Unternehmen. Man wartet auf die Geburt eines Kindes. Das Miteinander der Familienmitglieder mutet geordnet an. Unvermittelt steht Alfred Loth, freier Journalist einer linken Zeitung, der über die Wandlung seines früheren Freundes zum rechten Propagandisten schreiben will, vor der Tür. Die Gegenwart eines Fremden entlarvt die Harmonie. Man sieht einer Familie zu, die in Konflikten und Hoffnungslosigkeit versinkt.

Bereits ein Blick auf die Bühne (Vinzenz Karl Hegemann; Kostüme Josephin Thomas) macht klar, hier ist kein realistisches Erzähltheater zu erwarten. Ein fast leerer Raum, das Interieur beschränkt sich auf eine Stuhlreihe im Hintergrund, ein Klavier und ein kleines Treppenpodest. Von Milieu keine Spur.

Regisseurin Juliane Kann wirft die Zuschauer zunächst in ein theatrales Chaos. Die Darsteller rennen, schreien, bewegen sich verlangsamt, agieren abstrus und jeder für sich. Ein Mann am Klavier (Ralph Opferkuch) schlägt nervig die immer gleichen Töne an. Lange bleibt unklar, wie die Figuren einander zuzuordnen sind. Die erste Dreiviertelstunde des Abends irritiert und langweilt teilweise. Nur ab und zu blitzt ein komödiantisches Detail auf.

Auch die raumgreifenden Auseinandersetzungen zwischen Thomas Hoffmann (Christoph Bangerter) und Alfred Loth (Andreas C. Meyer), dramaturgisch Höhepunkte des Stücks, nutzen nicht die Angebote des Textes. Die Darsteller überspielen, sozusagen im Wortsinn, durch Heftigkeit und Zorn die Inhalte. Die Unterschiedlichkeit der ideologischen Positionen wird nicht griffig.

Im zweiten Teil des Abends aber zieht die Inszenierung die Besucher in ihren Bann. Schlagpunktartig beleuchtet die Regisseurin die familiären Spannungen. Die Zuschauer erleben überzeugende Schauspielkunst: Ergreifend, wie Martha (Anja Signitzer) ihrem Mann Thomas ihre Angst gesteht. Eindrucksvoll der betrunkene Krause (Burkhard Wolf) mit den Vorwürfen an seine Ehefrau Anni (Undine Schmiedl) und deren in unbändigem Hass begründete Reaktion. Ungewöhnlich die choreografisch, fast tänzerisch gestaltete Annäherung von Helene (Isabel Will) und Loth.

Bestechende szenische Einfälle fügen sich zum Panoramabild einer Gesellschaft. Auf der Interpretationsebene erschließen sich im Nachhinein zudem Details, deren Sinn zunächst befremdlich wirkte. Eindrückliche Bilder stehen für Empfindungen: Anja Signitzers lange schwarze Haare, unter denen sie sich oft quasi versteckt, symbolisieren den schwarzen Schleier ihrer Depression. Der Arzt Schimmelpfennig (Ralph Opferkuch) spielt Klavier, schweigend aufgereiht sitzen die anderen im Hintergrund: Die Welt steht einen Augenblick still. Mozarts Musik gibt Hoffnung. Den chaotischen und rätselhaften Beginn könnte man in seiner Gesamtheit als Abbild einer entfremdeten Welt deuten. Das Erlebnis von Kunst liegt immer auch im Auge des Betrachters. Das Angebot von Regisseurin Juliane Kann erweist sich als vielfältig und interessant.