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Schauspielhaus Ruf nach mehr Leben

Der zweigeteilte Theaterabend „Engel in Amerika“ von Tony Kushner hatte Premiere am Schauspielhaus Magdeburg.

Von Rolf-Dietmar Schmidt 01.03.2020, 23:01

Magdeburg l Das zweiteilige Sittengemälde der 1980er Jahre in den USA des Pulitzer-Preisträgers Tony Kusher ist im übertragenen Sinn ein Paar ziemlich großer Schuhe. Da hineinzusteigen, benötigt nicht nur eine gehörige Portion Selbstvertrauen des Inszenierenden, sondern verlangt auch vom Publikum einiges. Kushner spickte sein Stück mit Begriffen, wie der Aleph-Glyphe, dem ersten Buchstaben des hebräischen Alphabets, mit dem Gott beschrieben wird, den Heiligen Utensilien am Hügel Cumorah oder dem Namen Ethel Rosenberg, die in Erwartung ihrer Hinrichtung für die Mitgefangenen gesungen hat. Ohne diese Vorkenntnisse bleibt vieles an Verständnis auf der Strecke.

Das Stück spielt in den 1980ern. Das ist die Zeit, wo Aids die Menschen so ängstigt, dass man schon vor dem Verwechseln einer Tasse als Ursache für die Übertragung der Krankheit warnt. Ronald Reagan ist der 40. US-Präsident, Republikaner und erzkonservativ. Er ignoriert die Seuche, die sich von den USA über die ganze Welt ausbreitet. Es kann nicht sein, was nicht sein darf.

Das ist der Ausgangspunkt für Kushners Werk, der die nicht beachteten Hilfeschreie der Sterbenden hörbar machen will. Nicht polemisch, nicht ideologisch, wie er selbst sagt, sondern um einer Minderheit eine Stimme zu verleihen.

Die drei Handlungsstränge sind kompliziert. Prior Walter ist schwul und an Aids erkrankt. Sein Partner ist Jude und verlässt ihn deshalb. Der mormonische Anwalt Joe lernt Louis kennen. Er lebt mit seiner Frau Harper nach den strengen mormonischen Regeln, aber seine unterdrückte Homosexualität bricht sich Bahn, und er lebt sie heimlich mit Louis aus. Joe wiederum ist Schützling des erzkonservativen Anwalts Roy Cohn, der ebenfalls homosexuell ist, aber lieber Leberkrebs vortäuscht, um nicht zugeben zu müssen, dass er Männer liebt.

Innerhalb dieser Handlungsstränge, die schon kompliziert genug sind und teilweise zeitgleich auf der Bühne stattfinden, wird nun auch noch beständig mit Requisiten gewechselt. So entstehen scheinbar zusammenhanglose Bilder, die häufig noch durch schwer verständliche Monologe gedehnt werden.

Um aufkommende Langeweile zu verhindern, greift Tim Kramer tief in die Klischeekiste. Exzessive Liebesszenen zwischen Männern einschließlich Kopulation, vom Himmel schwebende überdimensionale Engel, ein nackter Mann auf der Bühne und quälend lange Schmerz- und Sterbeszenen. Da ist von allem ein gerüttelt Maß zu viel.

Uneingeschränkte Anerkennung gilt den Schauspielern, die nicht nur Unmengen Text lernen mussten, sondern sich auch mit körperlichem Einsatz buchstäblich, wie ein Zuschauer bemerkte, „die Seele aus dem Leib“ spielten. Allen voran Iris Albrecht, die einschließlich der Hannah sechs verschiedene Rollen, darunter drei Männer, mit der ihr eigenen unglaublichen Vielseitigkeit auf die Bühne bringt. Ralph Opferkuch spielt höchst charismatisch den aidskranken Prior Walter und den Mann im Park, während nicht minder ausdrucksvoll Christoph Bangerter den sich selbst verleugnenden Anwalt Roy M. Cohn gibt, während Andreas C. Meyer als der von den Gefühlen hin- und hergerissene Mormone Joe Pitt brilliert. Als seine Frau Harper Pitt präsentiert Anja Signitzer die zweite weibliche Hauptrolle.

Tim Kramer, während seiner Karriere viel in Wien tätig, hat sich für seine Inszenierung für Bühne und Kostüme bewährte Mitstreiter von dort geholt. Gernot Sommerfeld ließ sich einen schlichten Rundhorizont als Hintergrund einfallen, der durch ausgefeilte Lichteffekte tatsächlich das Gefühl der Grenzenlosigkeit bietet. Auch die Kostüme von Natascha Maraval, die sehr zurückhaltend auf die 1980er Jahre verweisen, ordnen sich wohltuend in das Bühnengeschehen ein.

Wer durch eigenes Erleben oder das von Freunden, von Familienmitgliedern oder Kindern, jemals mit den Ängsten vor Aids konfrontiert war, dem hat das Stück auch nach mehr als 30 Jahren, in denen sich viel verändert hat, aus dem Herzen gesprochen. Das erklärt auch die Begeisterung, die vermutlich dann die künstlerische Umsetzung recht milde beurteilt.

Doch in diesem Sittengemälde geht es auch um Rassismus, um das Leugnen von Realitäten. Das sind die Dinge, die uns heute auf den Nägeln brennen. Darin liegt die Stärke des Stücks, die dann allerdings im Teil 2 nach der Pause aufblitzt. Hier sind die stärksten Momente mit dem Ruf des Propheten nach „mehr Leben“, mit der bitterbösen Klage gegen einen Gott, der uns verlassen hat, sich nicht um seine Schöpfung kümmert. Diese starken Szenen mit Iris Albrecht und Ralph Opferkuch haben mit mancher Länge versöhnt.

Ein „Engel in Amerika“ polarisiert, provoziert und ist anstrengend. Aber eines hinterlässt es nicht: Gleichgültigkeit. Was will Theater mehr?