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Theater Auch ohne Worte voller Spannung

Peter Handkes Stück „Die Stunde, da wir nichts voneinander wußten“ hatte am Sonnabend Premiere - eine Sternstunde für das Theater Magdeburg.

Von Rolf-Dietmar Schmidt 14.05.2017, 23:01

Magdeburg l Der Platz des Geschehens ist die Welt, in der sich Menschen bewegen. Solche Plätze gibt es überall auf der Erde. Da sind Alte und Junge, eilige Geschäftsleute mit dem Handy, Verliebte, Sportler, Spaziergänger, Fremde.

Bewegung ist alles. Wer stehenbleibt, stört. Er wird zum Hindernis. Und wer innehält, ist ein Außenseiter. Geschäftiges Eilen ist der Treibstoff des Erfolges, des Vergnügens und der Zerstreuung. Peter Handke macht in seinem Stück „Die Stunde, da wir nichts voneinander wußten“ dieses geschäftige Treiben zum Prinzip. In kurzer Folge eilen Personen über die Bühne, verschwinden in den Kulissen, um erneut über die Bühne zu laufen.

Was eingangs chaotisch wirkt, weil die 16 Schauspieler und 16 Statisten immer wieder in anderen oder veränderten Kostümen mit neuen Requisiten auftauchen, formt sich Stück für Stück zu beeindruckenden Bildern.

Allmählich entwickelt sich das Laufen, Schreiten, Spazieren, Rennen und Marschieren zu Momentaufnahmen einer Realität, die wir so noch nie bewusst wahrgenommen haben, weil wir stets Teil der Bewegung waren. Peter Handke zwingt die Zuschauer aber in die Rolle des Beobachters, indem er unsere Eile und Geschäftigkeit als Realität auf die Bühne stellt.

Das polarisiert, noch dazu, wo durch die Vielfalt der Charaktere und ihrer Darstellung niemand an der Wiedererkennung des eigenen Ichs vorbeikommt. Keine gesellschaftliche Macht, ob Kirche, Wirtschaft oder Militär, kein herausragendes Ereignis der Weltgeschichte wird in den oft nur Sekunden dauernden Bildern ausgelassen. Man wird hineingezogen in diesen Sog: Schnell, schneller, noch schneller!

350 verschiedene Rollen mit Orten voller Geschichten und Begegnungen, permanente Wechsel von Bildern, unzählige Requisiten, die im richtigen Moment am richtigen Ort sein müssen. Das ist eine fast unglaubliche Leistung der Darsteller. Wie Regisseurin Cornelia Crombholz und Choreograph David Williams aus all den Facetten ein Gesamtkunstwerk formten, war begeisternd.

Wann immer die Hektik der Bilder und Ereignisse fast schmerzhaft wurde, folgte das „Einfrieren“ der stetigen Veränderung durch Bewegung, oder die Szenerie verringerte sich auf Zeitlupentempo. Durch diese abrupten Unterschiede erschließt sich, dass die Eile und Geschäftigkeit oft nur Oberfläche ist. Das Wesen der Bewegung, nämlich Veränderung, wird nicht berührt. Umgekehrt ist die Entschleunigung für den modernen Menschen ein fast schmerzhafter Prozess.

In Handkes Stück wird das an der Endlosschlange von Menschen deutlich, die zu Ravels „Bolero“ in quälender Langsamkeit von einem Bühnenende zum anderen zieht. Fast sehnt man sich das Ende der Reihe von in immer neuen Kostümen im Zeitlupentempo schreitenden Menschen herbei.

Häufig tragen sie Koffer oder Stühle als Sinnbild von Entwurzelten, die ihr letztes Hab und Gut schultern, um sich woandershin zu bewegen. Das ist nur eines der Sinnbilder, die zu höchst aktuellen Geschehnissen ohne Worte, aber dafür um so eindringlicher, Stellung nehmen. Nicht anders ist es mit dem Kriegsgeschehen, bei dem Soldaten in verschiedenen Uniformen eines bewirken, dass nämlich Schutz suchende Menschen fliehen.

Es sind mit die stärksten Momente in einem Stück, das ohne Worte auskommt und trotzdem atemberaubende Spannung erzeugt. Auf den Krieg folgt die große Kälte, die schließlich alle auf der Bühne zur Bewegungslosigkeit erstarren lässt. Der Kreis schließt sich: Die immer größere Eile und Geschäftigkeit der Menschheit führt letztlich zu ihrer völligen Bewegungslosigkeit, dem Tod. Doch auch hier gibt es im Stück einen Neuanfang. Die Menschen werden wieder zu Affen.

Nur ein kleines Mädchen, das einen Globus hinter sich herzieht, vermittelt die Erkenntnis, dass sich die Welt auch ohne Menschen weiterdrehen wird.

Weitere Vorstellungen am Sonnabend, dem 20. Mai, sowie am Freitag, 9., und Sonnabend, 10. Juni, 19.30 Uhr.