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Theaterstück Geschichte von Verlorenen in Magdeburg

Bei der Uraufführung von „Die Ratten“ reagierte das Publikum unterkühlt. Bei der neuen Inszenierung am Schauspielhaus Magdeburg lange nicht.

Von Claudia Klupsch 23.10.2018, 23:01

Magdeburg l Ausstatter Stefan Heyne hat eine gewaltige, mehrstöckige „Rattenburg“ auf die Bühne gezimmert, ein Gebilde aus kreuz und quer zusammengeschraubten Schranktüren. Die Figuren klettern hinauf und herunter, kommen zuweilen aus den Schranktüren, gleichsam wie Ratten, die aus ihren Löchern kriechen. Die Menschen sind gezwungen, zu (über)leben wie Ratten. Mit Hauptmanns Kritik an Ausbeutung und Verelendung neuerliche Brücken in die Gegenwart zu schlagen und effektvolle Theatertechnik einzusetzen, hat das Stück nicht zwingend nötig.

Die Kritik ist zeitlos. Die Inszenierung von Matthias Fontheim konzentriert sich auf den Grundkonflikt: Frau John, traumatisiert vom Tod ihres eigenen Sohnes, luchst dem ungewollt schwangeren Mädchen Piperkarcka das Kind ab. Eine haarsträubende Tragödie nimmt ihren Lauf. Die zweite Ebene, die Debatte übers Theater, die Hauptmann als komödiantische Brechung der Tragödie anlegte, ist nebensächlich gehalten.

Der Inszenierung zieht in die Atmosphäre des Elends. Fontheim lässt die Dialoge eines beherzt aufspielenden Ensembles deklamieren. Die Gesichter sind nicht einander, sondern dem Publikum zugewandt – es zeigt Distanz zwischen den Figuren, Lieblosigkeit, Entfremdung, ein Dasein aneinander vorbei.

Schauspielerin Susi Wirth brilliert in der Rolle der Jette John. Sie zeigt die unglückliche, sich nach einem Kind sehnende Frau, die sich in trotziger Körperhaltung einredet, kein Unrecht zu begehen. Ins Gesicht der Wirth legt sich Härte, als sie auf die arme Piperkarcka losgeht. In die verhärmte Miene fährt der Schrecken, als sie vom Mord an Piperkarcka erfährt, legt sich Schmerz, als ihr das Kind genommen wird. Susi Wirth spielt mit einer Glaubhaftigkeit, die unter die Haut geht. Sie beherrscht auch den Berliner Gossenjargon, den Hauptmann für einige seiner Figuren in seinem naturalistischen Theaterstück aufschrieb. Die Figur der John ist traurig einsam, dass der Anblick wehtut. Uwe Fischer als ihr Mann gibt einen durchaus selbstbewussten Proleten. Er erzielt mit seiner Figur vor allem zum Ende des Stückes intensive Präsenz – tobend begreift er das Lügenkonstrukt.

Carmen Steinert hat die herzzerreißende Gestalt der Piperkarcka mit polnischem Akzent zu meistern. Sie spielt die Rolle des armen, hilflosen Mädchens anrührend.

Das Böse gibt Lukas Paul Mundas als Bruno, Bruder der John. Mundas verleiht der zwielichtigen Gestalt samt Ganoven-Stimme und -Jargon etwas Schauderhaftes. Auch Bruno ist elend dran, ist ihm doch bewusst, dass er anderen nur für Drecksarbeit gut genug ist. Die Magdeburger Inszenierung von „Die Ratten“ schafft mit ihrer mitunter gewollten Überzeichnung der Figuren, mit einer Geschichte von Verlorenen und nicht zuletzt durch konzentriertes Spiel des Ensembles ein beklemmendes wie intensives Theatererlebnis.

Die nächsten Vorstellungen auf der Schauspielhaus-Bühne: Sonntag, 28. Oktober um 19.30 Uhr / Freitag, 9. November um 19.30 Uhr / Sonnabend, 24. November, 19.30 Uhr / Mittwoch, 26. Dezember um 19.30 Uhr.