Prof. Dr. Gerhard Jorch von der Universitätskinderklinik gegen starke Medikamente bei Bagatellen Eine Erkältung braucht kein Antibiotikum
Wenn ein Kind krank ist, möchten die Eltern, dass es schnell gesund wird. Antibiotika gelten als schnellwirkend. Aber sind sie auch sinnvoll? Prof. Dr. med. Gerhard Jorch, Klinikdirektor der Universitätskinderklinik Magdeburg, gibt Antworten.
Volksstimme: Verschreiben Ärzte, wie es die repräsentative Bertelsmann-Studie belegt, zu leichtfertig Antibiotika für Kinder?
Prof. Dr. Gerhard Jorch: Die Versuchung, die Sorgen und Mühen, die mit einer fieberhaften Erkrankung eines Kleinkindes verbunden sind, durch ein Antibiotikarezept zeitsparend zu "lösen" besteht. Das muss man wohl leider zugeben. Dahinter steht natürlich die Sorge, mit einer lebensrettenden antibiotischen Behandlung zu spät zu kommen.
Ich kann mich aber nicht erinnern, während meiner nunmehr 35jährigen Arbeit als Kinderarzt in zwei Unikliniken mit Kinderintensivstationen für die lebensbedrohlich erkrankten Kinder der versorgten Region einen Fall erlebt zu haben, bei dem eine zu späte Verschreibung von Antibiotika als Tabletten, Kapseln oder Saft eine wirkliche Gesundheitsbedrohung verursacht hätte.
Volksstimme: Es gibt aber doch Infektionskrankheiten, die unbedingt mit Antibiotika behandelt werden müssen.
Prof Dr. Jorch: Die wenigen und seltenen Infektionskrankheiten, die wirklich akut bedrohlich sind, wie Hirnhautentzündung, Blutvergiftung, Herzklappenentzündung und Kehlkopfentzündung, können durch oral (über Mund und Magen) verabreichte Antibiotika ohnehin nicht hinreichend behandelt werden, benötigen zusätzlich zur antibiotischen Behandlung eine Intensivtherapie und werden durch eine unzureichende Behandlung mit solchen Antibiotika eher verschleiert, so dass die richtige Diagnose und Therapie verzögert werden. Meine eigenen neun Kinder haben bis zum 18. Lebensjahr vielleicht etwa 20mal Antibiotika von mir verordnet bekommen, das heißt zweimal pro Kind.
Wir dürfen nicht vergessen, dass durch die Einführung zusätzlicher Impfungen in den vergangenen 20 Jahren unsere Kinder mittlerweile einen wirksamen Schutz nicht nur gegen Diphtherie und Keuchhusten, sondern auch gegen Infektionen durch Pneumokokken, Hämophilus influenzae und Meningokokken Typ C haben.
Volksstimme: Wann müssen Antibiotika überhaupt erst verschrieben werden?
Prof Dr. Jorch: Wenn wir über Antibiotika sprechen, die oral (über den Mund) eingenommen werden, so beschränkt sich die Anwendung auf wenige Infektionen, bei denen die Verursachung durch Bakterien gesichert wurde beziehungsweise aufgrund der Symptome sehr wahrscheinlich erscheint. Beispiele sind: Eitrige Mandelentzündung durch Streptokokken-Bakterien, eitrige Mittelohrentzündung im ersten (und evtl. zweiten) Lebensjahr, Infektion der Harnwege, gesicherter Scharlach.
Volksstimme: Wann sollten orale Antibiotika vermieden werden?
Prof. Dr. Jorch: Nicht angebracht sind orale Antibiotika in der Regel bei Infektionen der Rachenmandeln ("Rachen-Polypen", "Adenoide"), Nasennebenhöhlenentzündungen, infektiösen Darmerkrankungen, Mittelohrentzündung ab dem zweiten Geburtstag, "grippalen" Infekten, "Erkältungen".
Volksstimme: Wie sieht es bei schweren Erkrankungen aus?
Prof. Dr. Jorch: Akute schwere Lungenentzündungen bei Säuglingen und Kleinkindern, verursacht durch Bakterien, erfordern meistens eine parenterale (über Infusion in die Vene) antibiotische Behandlung und Krankenhausbehandlung. Eine orale antibiotische Behandlung kommt bei langwierigem Verlauf in Frage, jedenfalls aber nicht unverzüglich.
Volksstimme: Muss eine Erkältung gleich mit Antibiotikum behandelt werden?
Prof. Dr. Jorch: Grundsätzlich nie.
Volksstimme: Was bewirken Antibiotika im Körper eines Kindes?
Prof. Dr. Jorch: Sie inaktivieren oder töten ein bestimmtes Spektrum an Bakterien. Die überlebenden Bakterien können dann ungehinderter wachsen. Die so veränderte Bakterienbesiedlung kann die Schleimhäute schädigen und die Heilung verzögern. Außerdem besteht die Gefahr, dass Bakterien, gegen die die Antibiotika nicht wirksam sind, ungehindert wachsen und sich vermehren und somit bei anfälligen Menschen zu einer Infektion führen, die auch durch Antibiotika nicht mehr beherrscht werden kann.
Volksstimme: Wie können Eltern sicher sein, dass das Antibiotika, das ihr Kind bekommt, wirklich sein muss?
Prof. Dr. Jorch: Nachfragen. Medizin ist durch den normalen Menschenverstand, auch durch Nichtmediziner, verstehbar. Wenn man etwas nicht nachvollziehen kann, hat es der Arzt unzureichend erklärt.