Gerichtsurteil Erbrecht auch für uneheliche Kinder
Der Europäische Gerichtshof entschied am Donnerstag über eine der letzten Ungleichbehandlungen von unehelichen Kindern in Deutschland.
Straßburg (dpa) l Am Donnerstag rügte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte Deutschland erneut wegen einer der letzten Ungleichbehandlungen von nichtehelichen Kindern. In Deutschland gilt eine Stichtagsregelung, nach der uneheliche Kinder, die vor dem 1. Juli 1949 geboren worden sind und deren Vater vor dem 29. Mai 2009 gestorben ist, keine Rechte am Erbe des Vaters haben. Bis 2011 galt ein Gesetz, das eine noch größere Gruppe von Menschen benachteiligte. Der Menschenrechtsgerichtshof hatte Deutschland deshalb verurteilt.
Wo behandelt das Gesetz nichteheliche Kinder anders als eheliche?
Im Erbrecht. Kinder, die vor dem 1. Juli 1949 geboren wurden und deren Vater vor dem 29. Mai 2009 gestorben ist, haben keine Rechte am Erbe ihres Vaters. Alle anderen nichtehelichen Kinder haben die gleichen Erbrechte wie eheliche.
War das immer schon so?
Bis 1970 galten ein nichteheliches Kind und sein Vater als nicht verwandt. Auch nach einer Gesetzesänderung blieb es für Kinder, die vor dem 1. Juli 1949 geboren wurden, bei einer Benachteiligung im Erbrecht. Nach einer Verurteilung durch den Menschenrechtsgerichtshof hob Deutschland diese Stichtagsregelung teilweise auf – für Fälle, in denen der Vater nach dem 29. Mai 2009 gestorben war. Aus Sicht des Anwalts Felix Steinhoff, der das Straßburger Urteil erstritt, wird die Entscheidung des Gerichtshofs damit nicht vollständig umgesetzt.
Warum diese komplizierte Stichtagsregelung?
Aus Gründen des Vertrauensschutzes und der Rechtssicherheit. Der Gesetzgeber wollte die erbrechtlichen Verhältnisse zwischen Hinterbliebenen nicht über die Gebühr rückwirkend durcheinanderbringen. 2013 bestätigte das Bundesverfassungsgericht die Regelung. Kurz zuvor hatte der Menschenrechtsgerichtshof eine ähnliche Stichtagsregelung in Frankreich jedoch als diskriminierend bewertet.
Was hat der Menschenrechtsgerichtshof nun entschieden?
Deutschland hat eine weitere Verurteilung kassiert. Die Straßburger Richter rügten die Stichtagsregelung als diskriminierend. Für eine solche Ungleichbehandlung brauche es sehr gewichtige Gründe, heißt es in dem Urteil. Die europäische Rechtsprechung und nationale Reformen tendierten nämlich klar dazu, alle erbrechtlichen Diskriminierungen von nichtehelichen Kindern abzuschaffen. Rechtssicherheit und Vertrauensschutz könnten die Ungleichbehandlung nicht rechtfertigen. Entscheidend war für die Richter im konkreten Fall auch, dass die nichtehelich geborene Klägerin von ihrem Vater anerkannt worden war und beide in Kontakt standen. Die Witwe des Mannes wusste daher um die Existenz einer nichtehelichen Tochter. (Beschwerde-Nr. 29762/10)
Welche Folgen hat das Urteil?
Noch ist die Entscheidung nicht rechtskräftig. Die Bundesregierung könnte eine Verweisung an die nächste Instanz beantragen. Tut sie dies nicht, ist Deutschland an das Urteil gebunden. Auf die erste Verurteilung von 2009 hat der deutsche Gesetzgeber mit einer Reform des Erbrechts reagiert. Konkrete Vorgaben, wie das Urteil, dessen Durchsetzung der Europarat überwacht, umzusetzen ist, gibt es allerdings nicht. Die Klägerin kann außerdem auf eine Entschädigung hoffen, über die der Gerichtshof noch nicht entschieden hat. In Straßburg sind zudem zwei weitere Fälle anhängig. Die Kläger können mit einem Urteil in ihrem Sinne rechnen.
Wie viele Menschen sind von der Stichtagsregelung betroffen?
Die Bundesregierung hat dazu keine Zahlen. Anwalt Felix Steinhoff, der wieder einen der zwei weiteren Kläger vertritt, schätzt, dass zwischen 20.000 und 50.000 Leute betroffen sind. „Das sind Kinder, die während des Kriegs geboren wurden“, sagt er. „Da waren die familiären Verhältnisse ziemlich chaotisch.“ Er will, dass der Gesetzgeber die Stichtagsregelung vollständig aufhebt. „Da geht es ums Prinzip“, sagt Steinhoff. „Als mein Mandant 1943 geboren wurde, da fühlte er sich im Grunde als Kind zweiter Klasse. Das ist jetzt die letzte Mauer, die noch fallen muss.“