Wenn menschliche Nähe fehlt Psychologin: "Alleinsein kein gesellschaftliches Stigma"
Das Gefühl der Einsamkeit ist vielen Menschen - gerade vor Weihnachten - bekannt. Die Corona-Pandemie verschäft die Lage. Eine Psychologin aus Halle erklärt, wie wir weniger Einsamkeit empfinden können.
Halle (dpa) - An Weihnachten fühlen sich viele Menschen einsam. Gerade im Pandemie-Jahr mit seinen Kontaktbeschränkungen könnte sich dieses Empfinden verstärken.
Die Psychologin Annegret Wolf von der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg erklärt in einem Interview der Deutschen Presse-Agentur, was in dieser Zeit gegen das Gefühl getan werden kann und warum Alleinsein noch immer ein gesellschaftliches Stigma ist.
Was ist eigentlich Einsamkeit?
Annegret Wolf: Einsamkeit ist ein wahrgenommener Mangel an tiefgründigen, sozialen Kontakten. Wenn wir einsam sind, dann haben wir das Gefühl, dass unsere Beziehungen zu anderen nicht ausreichen. Wir fühlen uns nicht beachtet oder anerkannt. Dieses Gefühl kann belastend, aber auch motivierend wirken. Einsamkeit entsteht dann, wenn ein grundlegendes Bedürfnis von uns Menschen, die wir nun mal soziale Wesen sind, nämlich das Bedürfnis nach Nähe und Zugehörigkeit, nicht erfüllt werden kann. Daher könnte man Einsamkeit, wie Hunger, auch als hilfreiches Warnsignal unseres Körpers verstehen, dass uns dazu motivieren soll, wieder den Anschluss zu suchen.
Was macht Einsamkeit mit uns?
Wolf: Die Studienlage zeigt, dass soziale Isolation auf Dauer so schädlich sein kann, wie 15 Zigaretten am Tag, doppelt so schädlich wie Übergewicht und ein erhöhtes Risiko für viele körperliche und psychische Erkrankungen wie Schlafstörungen, Alzheimer, Depression, cardiovaskuläre Erkrankungen oder Krebs besteht. Zudem ist die Sterblichkeit bei Personen mit einem sehr schwachen sozialen Netzwerk erhöht. Das alles liegt vor allem daran, dass andauernde Einsamkeit eine enorme Stresssituation für unseren Körper darstellt und unser Immunsystem herunterfährt. Ich finde es irgendwie paradox, dass die Corona-Maßnahmen, die uns jetzt vor Erkrankungen schützen sollen, auf lange Sicht über Einsamkeit auch krank machen können.
Wie kann man aktiv gegen Einsamkeit vorgehen - gerade unter den Corona-Bedingungen?
Wolf: Das Gute zuerst: Wir können sehr viel tun. Besonders jetzt ist schon hilfreich, wenn man weiterhin eine feste Struktur im Alltag hat, kleine Rituale einführt und sich beschäftigt hält. Auch gerne über körperliche Aktivität, zum Beispiel mit einem ausgiebigen Spaziergang an der frischen Luft. Man sollte versuchen, aktiv Anschluss zu suchen. Einfach mal wieder anrufen, einen Brief schreiben oder die vielfältigen digitalen Möglichkeiten nutzen, um sich beispielsweise über einen Videoanruf zu sehen. Auch den älteren Nachbarn vielleicht die Einkäufe vorbeizubringen oder einfach mal kurz am Fenster nachfragen, wie es einem geht.
Wieso ist die Weihnachtszeit so prädestiniert für das "Entdecken" des Gefühls der Einsamkeit?
Wolf: Weihnachten gilt als Fest der Liebe, Familie und Geborgenheit. Wir erwarten es gesellschaftlich, auch verstärkt durch Werbung und Medien allgemein, dass zu den Feiertagen die ganze Familie und auch Freunde an einen Tisch kommen und gemeinsam eine schöne, harmonische und glückliche Zeit verbringen. Und so passt jemand, der Weihnachten allein unter dem Baum verbringt, einfach nicht in das Bild. Aus diesem Grund wird uns meist zu dieser Zeit des Jahres schmerzlich bewusst, dass man vielleicht niemanden an der Seite hat.
Wie kommt man aus dieser Situation heraus?
Wolf: Ich würde hier für ein Umdenken plädieren. Grundsätzlich sollte Alleinsein kein gesellschaftliches Stigma mehr sein, denn auch Menschen in einer festen Beziehung können sich einsam fühlen. Es geht weniger um die Quantität, sondern mehr um die Qualität unserer sozialen Kontakte. Es ist vollkommen in Ordnung, wenn man Weihnachten allein verbringt, wenn es einem gut tut und man die Zeit einfach mal für sich in Ruhe nutzen möchte. Zumal das Weihnachtsfest häufig gar nicht so harmonisch und stressfrei abläuft, wie wir es uns wünschen würden. Eigentlich sollten wir das ganze Jahr über versuchen, unsere Liebsten zu sehen und an sie zu denken und auf diesem Wege andauernder Einsamkeit keine Chance geben
- ZUR PERSON: Annegret Wolf (geb. am 5.1.1988) ist am Institut für Psychologie an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg angestellt. Zuletzt beschäftigte sie sich wissenschaftlich etwa mit der Verspieltheit im Erwachsenenalter und der Kriminalitätsfurcht. Aber auch mit der Aussagepsychologie und dem Thema Persönlichkeit setzte sie sich bereits intensiv auseinander und erhielt für ihre Forschungstätigkeit einen Doktortitel.
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